Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Brüssel fürchtet deutsche Wahlen

Freitag 17.September.2021 - 05:49
Die Referenz
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Die EU spielt im Bundestagswahlkampf keine Rolle.  Umgekehrt wartet Europa gespannt auf die Nachfolge von Angela Merkel.  Denn in Brüssel ist gerade viel los.

Wenn man von den Deutschen in Brüssel drei Qualitäten erwartet, dann sind diese: erstens Verlässlichkeit, zweitens Verlässlichkeit, drittens Verlässlichkeit.  Nach 16 Jahren bei Bundeskanzlerin Angela Merkel sind die Partner in der Europäischen Union fest davon überzeugt, dass die Dinge in Deutschland ihren vorgezeichneten Lauf nehmen werden.  In diesen Tagen fragen Frankreichs Vertreter häufig, wann Deutschland, vielleicht bis Oktober, wieder eine handlungsfähige Regierung haben wird?  Sie erhalten eine Antwort von Deutschland-Experten, die nur halb scherzhaft ist: Bis Oktober klappt es auf jeden Fall.  Oktober 2022.

Die Wahlen in Deutschland treffen die EU zu einem heiklen Zeitpunkt.  Es gilt, große Projekte erfolgreich zum Abschluss zu bringen, allen voran den Green Deal, das riesige Klimaschutzprogramm, das jetzt als Gesetzespaket durch die EU-Institutionen verabschiedet wurde und am Ende von den Chefs verhandelt werden muss  der Regierung.  Frankreich übernimmt im ersten Halbjahr 2022 den Ratsvorsitz und damit die Leitung des EU-Ministerrats, dem Entscheidungsgremium der Staaten.  Präsident Emmanuel Macron möchte als Herrscher Europas glänzen - L'Europe, c'est moi!  - bevor er sich im April seinen Landsleuten zur Wiederwahl stellen muss.  Aber die Deutschen dürften ihm wegen der absehbaren Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung keine große Hilfe sein.

  Das wäre ein großes Missgeschick, für Macron und für Europa, sagt die französische Europaabgeordnete Fabienne Keller.  Erst vor wenigen Tagen war sie mit einer Delegation ihrer liberalen Fraktion "Renew Europe" bei Macron in Paris und staunt noch immer über die anhaltende Europa-Euphorie des Präsidenten.  In einem Gespräch am Rande der Plenarsitzung in Straßburg sagt sie bis ins Detail, Macron kenne EU-Projekte, zum Beispiel die Abkürzungen DSA und DMA – Gesetze, die neue Regeln für das Internet aufstellen und mächtige US-Online-Unternehmen eindämmen.

Fabienne Keller, ehemalige Bürgermeisterin von Straßburg, will sich als Elsässerin und überzeugte Europäerin nicht in den deutschen Wahlkampf einmischen.  Hauptsache, die deutsch-französische Achse bleibt intakt.  Am Ende fügte sie hinzu: "Nur ein kleines Bedauern": Europa sei im deutschen Wahlkampf offenbar kein großes Thema.  Viele in Brüssel teilen das Erstaunen und manche sind besorgt.

Angst vor der "roten Bedrohung"

  In den oberen Stockwerken der Brüsseler Machtzentrale wurde natürlich vor der Bundestagswahl strikte Neutralität verordnet, das gilt für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ebenso wie für ihren Gegner Charles Michel als Ratspräsident der 27 Chefs der  Staat und Regierung der EU.  Zumindest Michel ist bekannt dafür, dass er Merkel sehr vermisst.  Sie hat den Belgier sozusagen als Ratspräsidenten erfunden und kommuniziert, wie man hört, fast täglich mit ihm und macht den Eindruck, als würde sie den Europäischen Rat, den Gipfel der Staats- und Regierungschefs, einberufen  , jede Woche.  Für viele in Brüssel eine grauenhafte Vorstellung.

  Ob Armin Laschet oder Olaf Scholz statt Angela Merkel in den nächtlichen Gipfelrunden Kompromisse eingehen, ist für viele Nichtdeutsche in Brüssel zweitrangig.  Beide werden als überzeugte Europäer geschätzt.  Letztlich gehe es weniger um die Kanzlerin als um die Koalition, heißt es.

  Ampel, Jamaika, R2G.  Solche Begriffe müssen nun in die 24 Amtssprachen der EU übersetzt werden.  Als "coalition feu tricolore" präsentieren die französischsprachigen Medien die Variante mit Olaf Scholz als Kanzler einer Regierung aus SPD, Grünen und FDP.  Viele fragen sich, wie das funktionieren soll: Eine Partei, die keine Steuern erhöhen will, in einer Koalition mit zwei Parteien, die ihre Versprechen mit einer Vielzahl von Steuererhöhungen finanzieren wollen.  Die rot-rot-grüne Variante wirkt griffiger.  Die viel gelesene Nachrichtenseite Politico in Brüssel titelte: "Warum Deutschlands rote Bedrohung real ist."


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