Alle Hoffnung liegt auf Europa
Sonntag 15.August.2021 - 10:53
Ein korrupter Staat, keine Arbeit, wenig Rechte - und dann auch noch die Corona-Pandemie: In Tunesien sind viele Menschen frustriert. Sie wollen nach Europa - um jeden Preis.
Wie Tagesschau berichtet :Med Ali Arfaoui sitzt in einem der vielen Cafés in seiner Heimatstadt Menzel Bourgiba im Norden Tunesiens. Der 29-jährige Mann verbringt viel Zeit hier. Da sieht man sie dann den ganzen Tag, junge Männer bei einer Tasse Kaffee und immer mit dem Smartphone in der Hand. So vertreiben sie sich die Zeit.
Was harmlos wirkt, ist doch eine explosive Mischung aus unendlicher Langeweile und großem Frust. "Wenn ich sehe, wie wir hier in Tunesien behandelt werden" sagt Med Ali erbost, "und wie Europa mit seinen Bürgern umgeht, dann weiß ich, dass ich dort Rechte habe. Und diese Rechte gibt es hier in Tunesien nicht." Für Med Ali ist klar: Er will nach Europa, so schnell wie möglich.
Lampedusa liegt nicht weit entfernt. Und so machen derzeit die Tunesier den Hauptanteil bei den Geflüchteten aus, die in Italien eintreffen. 2020 gelangten insgesamt 13.000 Tunesier nach Italien, in diesem Jahr könnten es noch mehr werden. Das Boote kentern, Menschen im Mittelmeer ertrinken - in diesem Jahr sollen es schon mehr als tausend gewesen sein - all das weiß Med Ali. Und trotzdem will er das Risiko eingehen.
Ihn treibt, wie viele andere, der diffuse Zorn auf sein Land, die Verantwortlichen, die politische Klasse an. "Mein Land hat mir nichts zu bieten, deswegen ziehe ich das Meer vor. Das ist allemal besser als die Leute, die wir haben." Mit den hehren Worten von Tunesien als Leuchtturm der Region, als einzigem Land, das nach der Revolution 2011 den Übergang zur Demokratie geschafft hat, damit braucht man dem jungen Mann nicht zu kommen.
Seit 2011 hat sich die wirtschaftliche Lage eigentlich nur immer weiter verschlechtert, und die Corona-Pandemie brachte dann das Fass zum Überlaufen. Die Regierung zeigte sich unfähig, die grassierende Delta-Variante wirksam einzudämmen. Die Intensivstationen kollabierten. Es fehlte an allem, Sauerstoff, Medikamenten, Vakzinen. Tunesien hat laut Weltgesundheitsorganisation die höchste Sterblichkeitsrate in ganz Afrika.
In dieser Situation präsentierte sich Ende Juli Staatspräsident Kais Saied als Retter in der Not. Er feuerte den Premierminister und löste das Parlament kurzerhand für 30 Tage auf. Und er übernahm auch noch den Posten des Generalstaatsanwalts. Angesichts dieser Machtfülle sprachen nicht wenige Beobachter und auch viele Parteien des Landes von einem Putsch. Bei Tunesiern wie Medi Ali Arfaoui dagegen stoßen die Maßnahmen des autoritären Präsidenten auf Zustimmung. Endlich mal einer, der aufräumt, der anpackt.
Doch dass sich seine persönliche Situation grundlegend ändern wird, diese Hoffnung hat Med Ali nicht. Für ein paar Jahre hat er bei einem deutschen Autozuliefer-Betrieb gearbeitet, doch dann wieder den Job verloren. Die Bezahlung dort war empörend, findet Med Ali. "Es ist doch nicht logisch, wenn ein europäischer Arbeiter für die gleiche Arbeit in der Fabrik 2000 Euro bekommt, wir aber hier nur 150 Euro. Europa garantiert seinen Arbeitnehmern Rechte, während mein Land es ausländischen Unternehmen erlaubt, unsere Rechte ständig zu verletzen."
Die Liste der Missstände in Tunesien, die Med Ali auflistet, ist lang: Korruption, eine aufgeblähte Bürokratie, die jede Eigeninitiative erstickt, unfähige Politiker. Es hat sich eine Menge Frust angestaut, und Corona wirkt da nur noch wie ein Brandbeschleuniger.
Welch fatale Anziehung Europa hat, das weiß man im Haus von Jalila und Adel Khnissi. Ihre Geschichte ist nur schwer auszuhalten. Im November 2019 haben ihre beiden Söhne, Mehdi und Hédi, die gefährliche Überfahrt nach Italien versucht. Beide sind ertrunken. Die verzweifelten Eltern erkannten ihre Söhne an den Tätowierungen, als sie Fotos von den Leichen sahen.
Seitdem ist das Leben des Ehepaars nur noch ein Martyrium, hat jeden Sinn verloren. "Wenn ich nicht gottesfürchtig wäre, dann hätte ich mich schon längst umgebracht." sagt die Mutter Jalila. Sie zeigt die Diplome ihrer Söhne. Eine gute Ausbildung hätten sie gehabt, aber in ihrem eigenen Land nie eine Chance bekommen. "Warum müssen meine Söhne auswandern, um Arbeit zu finden? Was fehlte denn? Nur eine Arbeit, das ist doch ein Grundrecht."
Med Ali Arfaoui kennt die tragische Geschichte des Ehepaars. Doch sie kann ihn nicht abschrecken. Auch dass sein Bild von Europa sehr idealisiert ist, wird ihn, wie viele andere junge Menschen, nicht aufhalten. "Für mich geht es einfach um den Respekt, den ich hier nicht finde. Aber dort in Europa, hoffe ich, sind der Respekt und das Leben um so vieles besser als bei uns."
Europa sollte genau zuhören, was in den Cafés von Marokko, Algerien und Tunesien gesprochen wird. Viele Nordafrikaner wollen nur noch weg, auf die andere Seite des Mittelmeers.