Streit zwischen EU und Schweiz: Was bedeutet das für die Wirtschaft?
Freitag 28.Mai.2021 - 11:31
Nach langen Verhandlungen hat die Schweiz ihren europäischen Sonderweg bekräftigt: Sie möchte keine engere Bindung mit der EU. Die Schweiz muss aufpassen, dass sie ihre Kräfte nicht überschätzt, kommentiert SZ-Autor Thomas Kirchner.
Wie Süddeutsche berichtet : Im Süden zeigen die Türkei und Marokko, dass die EU mit ihrer halbgaren Flüchtlingspolitik erpressbar ist. Im Osten hat Weissrussland gerade sehr deutlich gemacht, dass man keine Angst hat, den grossen Nachbarn heraus zu fordern. Noch weiter östlich ist mit Russland eine militärische Grossmacht beheimatet, die im Zweifelsfall keinen Konflikt scheut.
Intern schwelen seit vielen Jahren Konflikte, die sich nicht auflösen lassen: die griechische Wirtschaft ist weit davon entfernt, die gigantischen Schulden aus der Finanzkrise abzulösen, Polen und Ungarn sehen die EU hauptsächlich als Geldgeber, Tschechien und Italien zeigen immer deutlicher Unbehagen angesichts einer Zentralmacht namens Deutschland, der deutsch-französische Motor stottert (siehe beispielsweise die aktuellen Rüstungsvorhaben), in Spanien schwelt der Katalonienkonflikt und kann sich leicht zur Staatskrise ausweiten.
Keiner dieser Konflikte wird wirklich gelöst, sondern im besten Fall nur durch wachsende Transferzahlungen (Hilfsfonds der EZB, Corona-Hilfsfond) eingefroren.
Mit Grossbritannien hat die EU ein potentes Mitglied im Zuge des Brexit gründlich verprellt. Der traditionelle starke Verbündete USA orientiert sich angesichts eines erstarkenden Chinas nach Asien, auf Chinas politischen, wirtschaftlichen und technischen Führungsanspruch findet die EU keine Antwort.
In dieser Situation sollte die EU vielleicht etwas kompromissbereiter sein und nicht auch noch die verbliebenen funktionierenden Partnerschaften aus Prinzipienreiterei beschädigen.
Ja, die Schweiz wird mehr Mühe haben, den Schaden für sich einzugrenzen. In der EU sollte man aber nicht noch stolz darauf sein, auch noch die letzten Freunde zu vergraulen. Man braucht sie dringender, als so manchem bewusst ist.
Im Jahr 2018 rief der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker am Ende seiner Rede anlässlich des von der Süddeutschen Zeitung veranstalteten Wirtschaftsgipfels aus: "Das Soziale ist kein Beiwerk! Es gehört ins Herz der europäischen Einigung!". Was sich zunächst wie ein flammendes Plädoyer für mehr Humanität anhört, ist in Wirklichkeit leeres Gerede, weil das, was das Soziale ist, in der Europäischen Union nach wie vor im Ungefähren bleibt. Jeder kann sich darauf seinen eigenen Reim machen. Eine wissenschaftliche Annäherung an den Gegenstand, materiell gefördert vom European Research Council (ERC), findet bis heute nicht statt und ist auch künftig nicht zu erwarten. Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, wenn sich die Schweiz in der zentralen Frage, worin der gleich eingangs des Vertrags von Lissabon formulierte Anspruch, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft anzustreben, seinen Grund hat, nicht mehr mit schierem Wortgeklingel zufrieden gibt. Nicht die Schweiz überschätzt daher ihre Kräfte. Vielmehr zeigt sich die Europäische Union als ein Scheinriese. Zwar liegen der Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission in Brüssel längst Ausarbeitungen vor, die eigenständig das Soziale als eine Gegebenheit wenigstens im Ansatz auf den Begriff bringen. An den theoretisch angeleitet und empirisch kontrolliert erhobenen Befunden orientiert sich aber keines der Mitgliedsländer der Europäischen Union in seinem politischen Handeln. Damit steht jedweder Beliebigkeit Tür und Tor sperrangelweit offen. Sich solch einem Unfug notwendig zu verweigern, sollte der Schweiz somit niemand übel nehmen.