Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Ultra-Lockdown trotz sinkender Zahlen? Merkel braucht jetzt mehr als gute Argumente

Montag 18.Januar.2021 - 11:07
Die Referenz
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Berlin -Focus - Vor der Bund-Länder-Konferenz zwischen Angela Merkel und den Ministerpräsidenten am Dienstag zeichnen sich massive Verschärfungen ab. Sollte es soweit kommen, müssen die Verantwortlichen ihren bisherigen Polit-Stil jedoch dringend überdenken. Nur 7141 Neuinfektionen? Die Corona-Zahlen, die das Robert-Koch-Institut am Montagmorgen vermeldete, klangen fast zu gut, um wahr zu sein. Und genau so war es dann auch. Insbesondere in Bayern und Rheinland-Pfalz waren die Meldungen auffällig niedrig. Eine Sprecherin bestätigte am Vormittag den Fehler gegenüber der ARD. Man prüfe derzeit, was der Grund für die wenigen Meldungen sei. Und dennoch. Trotz der Panne könnten viele Bürger erstmals nach langer Zeit so etwas wie Hoffnung schöpfen. Seit dem Jahreswechsel zeigen verschiedene Pandemie-Indikatoren auf den ersten Blick in die richtige Richtung: nach unten. So fiel der Wert der täglichen Neuinfektionen in den vergangenen Wochen bereits an mehreren Tagen unter 15.000, während auch die Anzahl aktiver Fälle seit dem 25. Dezember um fast 100.000 zurückgegangen ist: von 406.448 auf zuletzt 315.100. Ein leicht positiver Trend zeichnet sich auch auf den Intensivstationen ab, wo die Zahl der Patienten am 3. Januar mit 5762 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, seitdem jedoch auf 4971 gefallen ist. Ist das Schlimmste also tatsächlich überwunden? Zeigen die Wochen der Entbehrung, in denen die Bundesregierung und Ministerpräsidenten zunächst zum Light-Lockdown griffen und kurz vor Weihnachten schließlich alle angekündigten Lockerungen wieder einstampften, endlich ihre Wirkung? Die Statistikerin Katharina Schüller will sich diesbezüglich noch nicht festlegen. „Man sieht eine Stabilisierung, aber keinen deutlichen Rückgang und keinen Trend, der Entwarnung geben würde“, erklärt die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik auf Nachfrage von FOCUS Online. Dafür sei es bislang zu früh. „Vor allem weil die Auswirkungen von Silvester in den Daten bisher nicht vollständig sichtbar sind, wenn wir die Zeit berücksichtigen, die das Virus von der Ansteckung bis hin zur Entwicklung von schweren Symptomen bei Infizierten braucht. Das wird noch einige Tage dauern und das müssen wir abwarten; davor würde ich mir keine Aussage zutrauen, ob der Lockdown den gewünschten Effekt zeigt und die Zahlen wirklich zurückgehen.“ Für Merkel und die Ministerpräsidenten ist diesmal alles anders Auch wenn der Effekt noch nicht klar ist, die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten treiben die positiven Trends einen Tag vor der nächsten Bund-Länder-Konferenz in eine brisante Gemengelage. Anders als noch im November und Dezember, als sich sämtliche Kennzahlen rasant nach oben entwickelten, können Angela Merkel loder Bayerns Ministerpräsident Söder am Dienstag nicht einfach auf selbsterklärende Kurvenverläufe verweisen, wenn es womöglich um die Erläuterung strengerer Beschlüsse geht. Komplette Schließung von Schulen und Kitas, Home-Office-Aufforderung, verschärfte Ausgangssperren und die weitere Einschränkung von privaten Treffen, womöglich die 1-Fester-Freund-Regel – all das wird im politischenBerlin diskutiert und dürfte doch von vielen mit Blick auf aktuellen Zahlen als unverhältnismäßig empfunden werden. Ein Aufschrei, in Form eines schallenden „Habt ihr sie noch alle?“ aus Teilen der Gesellschaft wirkt vorprogrammiert, ebenso die Kritik an einer Politik, in denen die Begriffe „länger“ und „härter“ immer öfter wie selbstverständlich an die Bürger weitergegeben werden. Sollte es am Dienstag tatsächlich zum viel diskutierten Ultra-Lockdown und damit zu einer nie dagewesenen Einschränkung der Grundrechte kommen, braucht es eine Abkehr vom bisherigen Kommunikationsmodus und dem gängigen „Wir haben das jetzt beschlossen und in zwei Wochen sehen wir weiter“-Tonus. Es braucht mehr! Die soziale Sprengkraft ist dafür schlicht zu groß. Merkel und die Ministerpräsidenten sind in der Bringschuld Angela Merkel und die Länderchefs sind in Sorge - vor dem mutierten Virus, das in Form der hochansteckenden Variante B.1.1.7 die Fallzahlen insbesondere in Großbritannien und Irland exponentiell ansteigen lässt. Jetzt nicht oder zu lax zu reagieren und so womöglich den zeitlichen Vorsprung gegenüber dem veränderten Virus zu verspielen, würde das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement des Bundes und der Länder irreparabel beschädigen – von den gesundheitlichen und ökonomischen Folgen ganz zu schweigen. Genau diese Szenarien müssen den Bürgern in Deutschland jedoch exakt und bis ins kleinste Detail aufgezeigt werden, wenn sich die Politik zu derart einschneidenden Maßnahmen entscheidet. Jeder muss wissen, was derzeit auf dem Spiel steht. Alles andere wäre nicht nur unverschämt, sondern vor allem auch unverantwortlich. Denn die Wirksamkeit der Maßnahmen, so streng sie auch sein mögen, hängt zu großen Teilen immer noch von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Kommt die Politik ihrer Aufklärungspflicht nur unzureichend nach, dürften Unverständnis und Ärger angesichts der sonst positiven Corona-Trends massiv ausfallen. Richtig ist es deswegen, wenn aus den SPD geführten Ländern die Forderung laut wird, es müsse zunächst Klarheit über Verbreitung und Wirkung des mutierten Virus geben. Die Politik ist hier in der Bringschuld und muss zumindest ihre Risikoabwägung genauestens darlegen, wenn wissenschaftliche Daten fehlen oder nur begrenzt vorliegen. Gleiches gilt selbstverständlich für die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen. Sind nächtliche Ausgangssperren wirklich notwendig, wenn sich ein Großteil der Menschen erwiesenermaßen in den Großraumbüros und Produktionshallen des Landes anstecken? Es braucht Antworten auf solche Fragen. Inzidenzwerte müssen an Lockerungen gekoppelt werden Gleichzeitig muss endlich Schluss sein mit dem bisherigen Modus operandi, nach dem sich die Krisenmanager des Landes von Ministerpräsidentenkonferenz zu Ministerpräsidentenkonferenz hangeln und die Menschen im Land in einer immerwährenden Corona-Dauerschleife zurücklassen. Stattdessen braucht es glasklare Ansagen, was ab welchem Inzidenzwert wieder möglich ist. Angesichts weiterer Verschärfungen sind gemeinsame gesellschaftliche Ziele und Aussichten auf Lockerungen umso wichtiger für den Zusammenhalt und die Stimmung im Land. Apropos Lockerungen: Man kann sich kaum mehr daran erinnern, wann der Begriff zuletzt auf einer Pressekonferenz ausgesprochen wurde. Verlangt man einer Gesellschaft jedoch derart schmerzliche Opfer ab, muss auch das zwangsläufige Thema sein, selbst wenn es aktuell keinen Anlass zu geben scheint. Dabei sollten die Sehnsucht und das Recht der Menschen auf Normalität und ihre persönliche Freiheit allein Grund genug sein. Mit Blick auf das mutierte Virus mag die Lage aktuell dramatischer sein, als es die herkömmlichen Corona-Kennzahlen vermuten lassen. Ob diese Bedrohung auch innerhalb der Gesellschaft verfängt, wird sich morgen nach der Ministerpräsidentenkonferenz zeigen. Dann nämlich sind glasklare Erklärungen und Begründungen gefordert. Alles andere würde der Tragweite der kolpotierten Einschränkungen nicht gerecht werden.
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