Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Deutschland droht Total-Lockdown - für Merkel ist es schwerste Entscheidung ihrer Amtszeit

Samstag 16.Januar.2021 - 04:26
Die Referenz
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Berlin - focus - Es wäre ein Lockdown, wie ihn Deutschland seit Ausbruch der Corona-Pandemie noch nicht erlebt hat: Alle Schulen und Kitas dicht, Home-Office-Pflicht, Einschränkungen im ÖPNV, 1-Fester-Freund-Regel. Ob es soweit kommt, darüber entscheidet auch und vor allem Angela Merkel. Was geht der Kanzlerin jetzt wohl durch den Kopf? Maximal ein Jahr: So lange ist Angela Merkel - je nach dem wie lange Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl dauern - nur noch im Amt. Eigentlich wäre jetzt die Zeit, ihre Kanzlerschaft ruhig und routinemäßig ausklingen zu lassen. Davon ist sie wegen der Corona-Krise ohnehin weit entfernt. Doch jetzt setzt die hochansteckende Virus-Mutation B.1.1.7. die Bundeskanzlerin kurz vor der Politiker-Rente in den wohl rotesten Alarmmodus ihrer Amtszeit: „Die Situation hat sich verändert. Wir müssen etwas tun“, zitiert die „Bild“-Zeitung eine offenbar zutiefst besorgte Merkel angesichts der Virus-Entwicklung in Irland. Schon längst laufen im Kanzleramt übereinstimmenden Medienberichten zufolge die Gespräche über eine deutliche Verschärfung des bestehenden Lockdowns. Beim vorgezogenen Bund-Länder-Treffen am Dienstag soll sie fallen, die Entscheidung, ob Deutschland tatsächlich in den ultrastrengen, in den Super-Lockdown geht. Die Maßnahmen, die Bund und Länder bis dahin ausloten, wären einschneidend. Im Gespräch sind: Die Folgen eines solchen Mega-Lockdowns wären gravierend – für die Wirtschaft, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für Eltern, Kinder und Familien, für so ziemlich alle in Deutschland. Umso mehr Verantwortung lastet auf jenen, die die Entscheidung darüber fällen, ob er wirklich kommt oder nicht. In schwierigen Situation Entscheidungen zu treffen - das ist eigentlich das Steckenpferd von Angela Merkel. In den 15 Jahren ihrer Kanzlerschaft hat sie das häufig getan – und damit oft ihr Land verändert. Zum Beispiel, als die Kanzlerin auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise 2008/2009 ein milliardenschweres Versprechen abgab. Oder als sie im Sommer 2015 im Alleingang die Grenzen offen ließ und Tausende wartende Flüchtlinge nach Deutschland kommen ließ. Vieles steckt Angela Merkel routiniert weg. Wenn ihre Verhandlungspartner zum Beispiel nach Stunden zähen Ringens um Brexit-Details, Euro-Hilfen und Flüchtlingsfragen einnicken, ist sie noch hellwach. Dabei helfen ihr ihr nüchterner Blick als Wissenschaftlerin und ihre Fähigkeit, konträre Positionen zu verbinden und so Kompromisse zu erzielen. Kurzum: Merkel kann Krise. Doch jetzt, ausgerechnet auf der Zielgeraden ihrer Kanzlerschaft, geht es für Merkel ans Eingemachte – nicht etwa weil sie sich die Nächte im Kanzleramt mit Virologen und Infektiologen um die Ohren schlagen muss. Und auch nicht, weil sie als Corona-Dompteuse im Prinzip nichts in der Hand hat, um ihre Länderchefs zu domestizieren. Was Merkel in der Corona Krise am meisten fordert, ist die Neuartigkeit der Entscheidungen, die sie treffen muss. Bei der Frage, ob man ein ganzes Land in den kollektiven Lockdown schicken soll oder nicht, spielen natürlich finanzielle Erwägungen eine zentrale Rolle. Immerhin kostet jede Shutdown-Woche mehrere Milliarden. Doch die große Krux an der Corona-Krise liegt für Merkel woanders. Es geht der Kanzlerin bei ihren Entscheidungen vor allem um ein Gut, das ihr als Politikerin und als Mensch besonders am Herzen liegt: Freiheit. „Der Staat soll Gärtner sein, nicht Zaun“, sagte Angela Merkel 2006. Staatliche Bevormundung lehnt sie als Kind der DDR eigentlich rigoros ab. Doch ein solches freiheitspolitisches Credo in einer Pandemie durchzuhalten, ist unmöglich. Merkel sieht, dass man mit „Gärtnern“ nicht gegen das Virus ankommt – und so ist spätestens seit dem gescheiterten Lockdown Light im Herbst notgedrungen das Modell „Zaun“ angesagt. Man kann der Bundeskanzlerin vieles vorwerfen, etwa, dass sie sich in der aktuellen Krise zu wenig direkt an das Parlament wendet, das sich zunehmend übergangen fühlt. Doch eines steht außer Frage: Der Bürger leidet unter den Einschränkungen der Corona- Pandemie - und Merkel leidet mit. Wie sehr die Kanzlerin mit sich und ihren Entscheidungen ringt, wird auch an ihrer Sprache in der Pandemie deutlich. Als Merkel im Frühjahr den ersten Lockdown verkünden und dann verlängern musste, versicherte sie: „Glauben Sie nicht, dass es mir leicht fällt.“ Und im Dezember wurde die sonst so nüchterne Krisenmanagerin plötzlich hochemotional, als sie sich für den Weihnachts-Shutdown quasi entschuldigte: „Es tut mir im Herzen leid.“ Wenn Angela Merkel nun am Wochenende die Lage mit Experten sondiert und am Dienstag mit ihrer Stimme den Weg aufzeigt, ob Deutschland wirklich in den Total-Lockdown geht oder nicht, dann wird das für sie mehr als eine routinierte Kosten-Nutzen-Analyse. Angela Merkel wird mit sich und ihren Prinzipien ringen müssen. Und egal, wofür sie sich am Ende ausspricht, es wird die wohl schwerste Entscheidung ihrer Kanzlerschaft werden.
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