Erdogan erbt den osmanischen Eroberer ... und feindlich die Welt
Samstag 01.August.2020 - 09:53
Istanbul - die Tagespost - Die internationalen Proteste durften Subalterne parieren, der Sprecher des Präsidenten oder der des Außenministeriums. Der Sultan selbst hatte in diesen Tagen Wichtigeres zu tun. Gemeinsam mit seiner Frau Emine (wie immer mit Kopftuch) inspizierte Recep Tayyip Erdogan am Vortag die Hagia Sophia, kontrollierte die Vorbereitungen, posierte mit Gattin vor dem neuen Schild mit der Aufschrift „Groß-Moschee Hagia Sophia“
Am Freitag schließlich, nachdem sich Zehntausende mit ihren Gebetsteppichen rund um den mächtigen Sakralbau postiert hatten und einer der drei frisch ernannten Imame drinnen stundenlang aus dem Koran rezitiert hatte, erfüllte sich Erdogans Jugendtraum. Er, der Sohn eines kleinen Küstenschiffers aus dem Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, betrat als Staatspräsident die Hagia Sophia, flankiert von den Mächtigen seines Reiches: von Ministern, Mitarbeitern und dem Koalitionspartner – um der Rückumwandlung der Hagia Sophia zur Moschee beizuwohnen.
Ach nein, nicht um beizuwohnen! Erdogan war nicht in die Politik gegangen, um dabei zu sein, sondern um zu führen und zu formen. Er, den die damals laizistische Justiz der Türkei zu einer Haftstrafe verurteilt und mit Politikverbot belegt hatte, der seine Macht unter Putsch-Drohungen und einem Putschversuch kemalistischer Generäle immer weiter ausgebaut hat, kniete am Freitag in der ersten Reihe. Tief konzentriert stimmte er selbst als Vorbeter die Eröffnungssure des Freitagsgebets, die Al-Fatiha an
Unüberbietbar war diese Zeichenhandlung: Auf den Tag genau 97 Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Lausanne, der Gründungsurkunde der modernen Türkischen Republik, zog Erdogan einen Schlussstrich unter Atatürks laizistische Staatsdoktrin. Der Kulturrevolution, mit der Mustafa Kemal Atatürk seine Republik am radikalen Laizismus der Französischen Revolution neu ausrichten wollte, setzt Erdogan seine Konterrevolution entgegen. Am vergangenen Freitag, exakt drei Jahre vor dem hundertjährigen Bestehen der Türkischen Republik wurde Atatürks Staatsdoktrin, der Kemalismus, in Istanbul zu Grabe getragen.
Die Hagia Sophia, rund ein Jahrtausend lang das pulsierende Herz der östlichen Christenheit, die Basilika der Nachfolger des Apostels Andreas, die Krönungskirche der byzantinischen Kaiser: Zweimal wurde sie zur Moschee gemacht, nämlich am 29. Mai 1453 durch Sultan Mehmet II., genannt „der Eroberer“, und nun am 24. Juli 2020 – 567 Jahre später – durch Präsident Erdogan. Zuletzt war sie 86 Jahre lang ein Museum, mit einem Dekret, das die Unterschrift Atatürks trägt.
Doch Atatürks Unterschrift zählt nicht mehr in der Türkei Erdogans. Ebenso wenig wie seine Prinzipien und Ziele. Die Inbesitznahme der Hagia Sophia am 24. Juli 2020 geht nicht allein als schwer überbietbarer Affront gegen die weltweite Orthodoxie in die Geschichtsbücher ein. Das Datum besiegelt auch eine Neuausrichtung der Türkei, die in der einst von Mehmet II. eroberten Patriarchalbasilika von Byzanz im Stil einer nationalistischen Staatsliturgie zelebriert wurde.
Da stieg der Präsident des staatlichen Religionsamtes Diyanet und oberste Imam der Republik, Ali Erbas, mit einem Schwert in der Linken auf den Minbar der Hagia Sophia, um die Großtaten Sultan Mehmets zu preisen, der „Istanbul mit der Erlaubnis und Gnade Gottes“ erobert habe. Die „Schwerttradition“ (kiliç gelenegi) erinnert an die gewaltsame Eroberung Konstantinopels, und auch an die Verwendung des Schwertes bei der Thronbesteigungs-Zeremonie der osmanischen Sultane.