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Flüchtlingsdeal: Erdogan setzt Europa unter Druck

Sonntag 26.Januar.2020 - 09:23
Die Referenz
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Berlin (Welt) - Recep Tayyip Erdogan scheut sich nicht, die internationale Gemeinschaft unter Druck zu setzen, damit sie in seinem Sinne handelt: So rief er am Freitag zur Abkehr vom libyschen General Chalifa Haftar auf, obwohl er von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, „Dieser Mann ist nicht vertrauenswürdig“, sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Istanbul. Erdogan unterstützt Haftars Gegenspieler, Libyens Premier Sarradsch.  Dieses Auftreten kann er sich erlauben, weil er viele Hebel hat, um die anderen Länder unter Zugzwang zu setzen – in diesen fünf Regionen ist das Drohpotenzial besonders groß.

Ägäis: Migration

„Wenn es nötig ist, werden wir die Tür wieder öffnen“ – dieser Satz von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan spricht aus, was das größte Druckmittel der Türkei gegenüber Deutschland ist. Seit 2016 gibt es ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei, um Migranten davon abzuhalten, über das Mittelmeer auf die griechischen Ägäis-Inseln (und damit in die EU und den Schengen-Raum) zu gelangen. Die Türkei hat aber mehrfach angedroht, dieses Abkommen wieder aufzukündigen.

Diesen Hebel hat Erdogan schon öfter benutzt, um Deutschland und die EU zunter Druch zu setzen. Er forderte erfolgreich, seine militärischen Interventionen im Norden Syrien sollten von der EU nicht „Invasion“ genannt werden. Er erreichte damit eine schnellere Auszahlung der Ankara zugesagten sechs Milliarden Euro (als Gegenleistung dafür, dass die Türkei ihre Grenzen strenger kontrolliert und jeden Syrer, der auf die griechischen Inseln gelangt und dort kein Asyl erlangt, zurücknimmt). Und er erreichte auch, dass Berlin und Brüssel sich bereit erklärten, über noch mehr Geld im Rahmen dieses „Flüchtlingepakts“ zu verhandeln. 

Deutschland: Politik und Sicherheit

Seit Jahren ist die AKP bemüht, unmittelbar auf die Meinungsbildung und das Verhalten der türkischen Diaspora in Deutschland einzuwirken. Mehr als drei Millionen Türkischstämmige leben hier. Diese Bemühungen gehen von Organisationen wie der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib), der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) oder der vom Verfassungsschutz beobachteten Milli-Görüs-Bewegung aus.

Die UETD etwa machte erfolglos gegen die Anerkennung des armenischen Völkermords durch den Bundestag mobil. Der Verfassungsschutz beschreibt den Verband als „regierungsnahe Vorfeldorganisation“, der politisch und gesellschaftlich „Lobbyismus für Interessen der AKP betreibt“. So war es Erdogan selbst, der 2004 die Gründung der UETD in Köln angestoßen hatte. 2018 war gegen mehrere Imame der Ditib ermittelt worden, weil sie Berichte über mutmaßliche Gülen-Anhänger verfasst hatten. Im selben Jahr war bekannt geworden, dass der türkische Geheimdienst MIT gezielt versucht haben soll, seine Mitarbeiter in deutsche Behörden einzuschleusen.

Aktuell will sich die Bundesregierung aus „Gründen des Geheimschutzes“ nicht zu laufenden Verfahren wegen des Verdachts der „geheimdienstlichen Agententätigkeit für türkische Geheimdienste“ äußern. Bis heute ist davon auszugehen, dass Regimekritiker in türkischen Generalkonsulaten schikaniert werden. Annelie Naumann

Libyen: Migration, Terror, Energie

Im Jahr 2019 unterzeichnete Erdogan ein militärisches Hilfsabkommen mit Tripolis und ein Seegrenzen-Abkommen, wobei Ankara wichtige Erdgasfördergebiete und Pipeline-Routen im Mittelmeer kontrollieren könnte. Die Türkei möchte in Libyen dauerhaft Einfluss behalten und seine entscheidende, geopolitische Lage für sich nutzen. Libyen gehört zu den zehn Ländern mit den größten Erdölreserven der Welt.

Zahlreiche europäische Länder, darunter Deutschland sind Abnehmer von libyschem Erdöl und Gas. Die Türkei könnte in Zukunft mitbestimmen, wohin und in welchen Mengen das libysche Erdöl exportiert wird. 2019 versuchten nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration knapp 26.000 Menschen, nach Europa zu gelangen.

Weitere hunderttausende Migranten sind schon in Libyen. Wie viele nach Europa übersetzen können, hängt auch von den Behörden in Libyen ab. Die Türkei könnte sie instrumentalisieren und über die Migration Druck auf Europa ausüben. Libyen ist bekannt als Tummelplatz radikaler Islamisten. In den letzten Monaten transportierte Ankara 2800 syrische Rebellenkämpfer nach Libyen. Durch ihren Export entstehen neue Netzwerke, die die Türkei nach Bedarf als Bedrohung für die Stabilität in Nordafrika und in Europa einsetzen kann. 

Östliches Mittelmeer: Energie

Ohne eine Beteiligung der Türkei wird es kein Erdgas für Europa aus dem östlichen Mittelmeer geben – was aber höchst wünschenswert wäre, um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern. Im Mittelmeer wurden in den vergangenen Jahren erhebliche Erdgasvorkommen entdeckt. Israel, Ägypten und Zypern haben sich zusammengeschlossen, um diese Gasquellen zu erschließen. Aber eine Pipeline nach Europa kann nur verlegt werden, wenn die Türkei es zulässt, und sie will das verhindern.

Es sei denn, der von türkischen Truppen besetzte und international nicht anerkannte nördliche Teil Zyperns werde an dem Projekt beteiligt. Das würde implizit auch eine Anerkennung der nordzypriotischen Regierung und eine Vertiefung der Spaltung der Insel bedeuten. Ein umstrittenes maritimes Abkommen mit Libyen – genauer gesagt mit der Regierung von Fajis al-Sarradsch, die aber wenig mehr als die Hauptstadt Tripolis beherrscht – gibt der Türkei das Recht, auch in libyschen Gewässern zu operieren.

Damit ist Zypern auf dem Meer „umzingelt“ – ein unsichtbarer Korridor reicht von der libyschen bis zur türkischen Küste, in dem türkische Kriegsschiffe missliebige Bohrschiffe oder Spezialschiffe für die Verlegung von Unterwasser-Pipelines vertreiben können. Einzige Lösung des Konflikts: Klein beigeben und den Türken geben, was sie wollen. 

Syrien: Flüchtlinge

Seit 2016 hat Erdogan dreimal in Syrien militärisch interveniert. Angriffsziele waren die Kurdengebiete. Die Türkei will eine Sicherheitszone im Nachbarland einrichten, um vorgeblich Terroranschläge der syrischen Kurdenmiliz YPG auf die Türkei zu verhindern. „Terror bekämpfen und Frieden sichern“, sind die Standardfloskeln, mit denen Erdogan seine Interventionspolitik wieder und wieder rechtfertigt. Diese ist jedoch ein Destabilisierungsfaktor der Region.

Sie erhöht die Migration und damit den Druck auf Europa. Seit 2011 waren Millionen Syrer vor dem Bürgerkrieg geflohen, unter anderem in die EU und davon die meisten nach Deutschland. Durch die türkischen Angriffe mussten erneut Hunderttausende Haus und Hof verlassen. Je länger die türkischen Interventionen andauern, um so höher steigt die Zahl der Flüchtlinge. Ohne Aussicht in ihre Heimat zurückzukehren, bleibt den Flüchtlingen nur die Hoffnung auf eine Zukunft in Europa. Erdogan zwingt mit seiner aggressiven Politik in Syrien die Weltmächte und die EU, ihn als regionalen Player zu akzeptieren. 

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