Die Wirtschaft in der Türkei in Gefahr: Geht Erdogan-Ära bald zu Ende?
Donnerstag 16.Januar.2020 - 04:49
Berlin (Finanzmarktwelt) - Recep Tayyip Erdoğan wurde lange als Reformer gefeiert. Doch inzwischen sieht seine Lage schlecht aus: Rekord-Arbeitslosigkeit in der Türkei bei gleichzeitiger Rekord-Verbraucherverschuldung, Rezession, Inflation, Außenhandelsbilanzdefizite. Und es wird wahrscheinlich noch schlimmer werden.
Gleichzeitig rutschte die Türkei 2019 in die Rezession. Ohne die dreiprozentige Neuverschuldung des Staates hätte die Schrumpfung der Wirtschaft im Tief nicht -2,6% (Jahresrate) betragen, sondern mindestens -5,6%! An der Spitze lag die Arbeitslosenquote so hoch wie während der Wirtschaftskrise 2009. Es sind hausgemachte Probleme der Türkei, schließlich geht es der Weltwirtschaft noch vergleichsweise gut. Sollte auch die Weltwirtschaft in die Rezession rutschen, kann es in der Türkei nur schlimmer werden.
Warum Erdogan überhaupt als Reformer angesehen wurde, ist rätselhaft. 1984 war er bereits Vorstand der Wohlfahrtspartei, die 1998 vom türkischen Verfassungsgericht wegen Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia verboten wurde. Daraufhin wechselte er in die Tugendpartei, die aus den gleichen Gründen drei Jahre später verboten wurde. Schon 1998 wurde Erdogan wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feinschaft unter Hinweis auf Unterschiede der Religion und Rasse zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Sieht so die Vita eines Reformers aus? Ich meine nein. Vielmehr zeigte sich schon seit Jahrzehnten Erdogans wahres Gesicht.
Erdogan zehrte von der Erholung nach dem 2000er Crash
Doch zumindest zum Beginn seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident verabschiedete das Parlament diverse Reformen, die das Land demokratischer und freiheitlicher machten. In diese Phase fällt auch der türkische Wirtschaftsboom. Wachstumsraten der Volkswirtschaft von teils mehr als 10% pro Jahr waren jedoch weniger einer Folge von Erdogans Staatsführung, als vielmehr ein Aufholeffekt nach der Rezessions zwischen 2001 und 2003, als die Wirtschaft am Tief mit einer Jahresrate von 10% schrumpfte.
Die Inflation ging nach Erdogans Amtsantritt zurück. Doch das war ebenfalls nicht sein Erfolg, sondern nur die Fortführung eines zehnjährigen Trends. Im Gegenteil sogar: Kurze Zeit nach Erdoğans Amtsantritt endete der steile Abwärtstrend und die Türken müssen seitdem mit Inflationsraten von 10% bis 20% pro Jahr leben. Das ist zwar weniger als vor der Ära Erdogan, aber eben ein abruptes Ende des lange währenden Abwärtstrends bei der Inflation.
Seine Beliebtheit dürfte auch dadurch zu erklären sein, dass die Türkei seit 2002 zunehmend auf Pump lebt. Die Handelsbilanz der Türkei war zwar schon vor Erdogan negativ. Doch sie hielt sich bei um die 2 Milliarden US-Dollar Defizit pro Monat. Erdogan hingegen steigerte das Defizit auf bis zu 10 Milliarden US-Dollar pro Monat. Die Türken erlebten also unter ihm eine importierte Wohlstandssteigerung. Diese wurde zusätzlich angeheizt durch einen wahren Verbraucherkreditboom. Seit Beginn des Jahrtausends stieg das Volumen ausgereichter Verbraucherkredite um den Faktor 142! Die im historischen Vergleich niedrigen Zinsen und das hohe Wirtschaftswachstum haben offensichtlich die Verbraucher zur Kreditaufnahme verleitet, wobei die auf Kredit gekauften Waren und Dienstleistungen das gefühlte Wohlstandsniveau ebenfalls erhöhten. Diese gefühlte Wohlstandssteigerung hat jedoch auch entscheidende Nachteile: die türkische Lira hat seit 2002 erheblich abgewertet. Gegenüber dem US-Dollar von 1,5 Lira pro US-Dollar auf heute 5,9 Lira.
Inflationsbereinigt gibt es keinen Boom in der Türkei
Bei der Beurteilung von Kennzahlen müssen Sie stets die aus deutscher Sicht enorme Inflation in der Türkei mit berücksichtigen. So hat sich der Wert des türkischen Aktienindex BIST 100 seit 2002 unter der Ära Erdoğan zwar verneunfacht. Doch seitdem nahm die Kaufkraft der Lira auch um 78,5% ab. In realer Kaufkraft stieg der Wert des Aktienindex in diesen 17 Jahren also nur um 94%. In realer Kaufkraft gerechnet hat sich der DAX hingegen im gleichen Zeitraum fast verdreifacht. Ganz ohne einen angeblichen Reformer-Erdoğan an der Regierungsspitze.
Insofern können wir vermuten, dass Erdogan weder ein mutiger Reformer im Jahr 2002 noch ein überzeugter, religiöser Quasi-Diktator im Jahr 2020 ist. Vielmehr war er schon immer ein Opportunist, der tat, was nötig erschien, um an die Macht zu kommen und dort auch zu bleiben. 2002 waren das demokratische Reformen. Als sich die Wirtschaft einzutrüben begann und Erdoğans Nimbus zu verblassen begann, zog er die Religions- und Diktator-Karte. Doch damit beschleunigte Erdoğan das Erodieren der wirtschaftlichen Basis seiner Beliebtheit nur noch. Die Lira wertet schneller ab, seitdem er Kritiker gnadenlos verfolgt und ins Gefängnis steckt. Wer will schon in ein Land investieren, in dem kaum noch Rechtssicherheit herrscht?
Die Weltwirtschaft wächst, die türkische Wirtschaft nicht mehr
Das Haushaltsdefizit seiner Regierung lag 2018 bei -2% des Bruttoinlandsprodukts. Das sieht nicht nach viel aus. Doch mit Ausnahme der Jahre 2009 und 2010, als finanzkrisenbedingt fast alle Staaten weltweit mehr ausgaben, kamen seine Regierungen stets mit deutlich weniger Defizit aus. Und 2018 war nur der Auftakt zu einer viel größeren Schuldenorgie. Im Dezember 2019 stieg das Monatsdefizit auf den höchsten Stand seit 13 Jahren, was das Jahresdefizit auf 3% des Bruttoinlandsprodukts erhöht.