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Zahl der türkischen Asylbewerber ist massiv in Deutschland angestiegen

Freitag 10.Januar.2020 - 03:47
Die Referenz
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Berlin (Welt) - Es dauerte nur einen Tag, dann hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Juli 2016 den Putschversuch schon wieder niedergeschlagen. Noch in der Nacht machte Erdogan die Anhänger seines einstigen Weggefährten Fethullah Gülen verantwortlich. Dann begann sein rigoroses Vorgehen gegen Gegner, das noch immer anhält.

Nach offiziellen Angaben wurden mehr als eine halbe Million Ermittlungsverfahren eingeleitet. 155.000 Beamte und Lehrer wurden aus dem Dienst entlassen, darunter Tausende Militärs. Mehr als 30.000 Personen landeten im Gefängnis, um die 20.000 wurden verurteilt.

Dieses harte Durchgreifen der Erdogan-Regierung hat sich auch auf Deutschland ausgewirkt. Die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei ist seit dem gescheiterten Putschversuch deutlich angestiegen. Informationen, die WELT vorliegen, zeigen wie groß das Ausmaß ist und wie kritisch die Bundesregierung die Situation in jenem Land sieht, mit dem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in diesem Monat über eine Fortsetzung des EU-Türkei-Deals verhandeln will, wie die „Süddeusche Zeitung“ berichtete.

Ein düsteres Bild zeichnet der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei. „Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die Terrorbekämpfung und die Sicherung ,nationaler Interessen‘ hat (… ) ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht, das auch negative Auswirkungen auf Grundfreiheiten bzw. weitere asylrelevante Folgen hat“, heißt es in der Zusammenfassung des 34-seitigen Berichts, der WELT vorliegt. Die türkische Regierung sehe die „Sicherheit des Staates“ durch die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK, die Gülen-Bewegung sowie durch Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gefährdet.

Das Dokument wurde vom Auswärtigen Amt aufgrund eines Antrags nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) teilgeschwärzt übermittelt. Einschätzungen wie diese über die Türkei werden für viele Länder erstellt, regelmäßig aktualisiert. Sie dienen zum Beispiel dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Behörden oder Gerichten als Entscheidungshilfen bei Asylverfahren oder möglichen Abschiebungen.

Tatsächlich ist die Türkei als Herkunftsland von Asylbewerbern seit dem gescheiterten Putschversuch viel wichtiger geworden. Das zeigen neue Statistiken, die WELT vorliegen.

Demnach hat sich die Zahl von Asylbewerbern aus der Türkei seit 2016 auf hohem Niveau eingependelt. Registrierte das BAMF nach eigenen Angaben zuvor jährlich etwa 1800 Asylbewerber aus der Türkei, waren es 2016 bereits 5742 und im Jahr 2019 sogar 11.423 Schutzsuchende. Nur aus Syrien und dem Irak kamen im vergangenen Jahr mehr Antragsteller in die Bundesrepublik. 

Unter den türkischen Bewerbern befinden sich auch viele Diplomaten und Staatsbedienstete. Im Jahr 2019 haben laut BAMF 207 Inhaber von Diplomaten- oder Dienstpässen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Diese Zahl umfasst auch mögliche Ehepartner und Kinder. Seit 2016 sind es insgesamt deutlich mehr als 1000. Erdogan und andere Regierungsmitglieder haben Deutschland für ihre Aufnahme kritisiert. Man biete Straftätern „Unterschlupf“.

Bis 2016 hatten noch vor allem Kurden hierzulande Asyl beantragt. Damals machten jene, die eine türkische Volkszugehörigkeit angaben, lediglich rund 20 Prozent aus. 2019 waren es jetzt knapp mehr als 50 Prozent.

Die veränderte Zusammensetzung wiederum wirkt sich stark auf die Erfolgschance des Asylantrags aus: Denn die Schutzquote von Türken lag 2019 bei ganzen 74,6 Prozent, bei Kurden dagegen nur bei 14,5 Prozent. Insgesamt ist die Schutzquote für Asylbewerber aus der Türkei damit von 8,2 Prozent 2016 über die Jahre auf jetzt 47,4 Prozent gestiegen.

Befragungen von Asylbewerbern zeigen, dass Schutzsuchende aus der Türkei einen überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad besitzen. 2018 hatten 59,3 Prozent von ihnen erklärt, dass sie in der Vergangenheit eine Hochschule besucht hätten. Dazu kommen jene Türken, die ihrem Land aufgrund des verschärften Durchgreifens der Regierung zumindest erst einmal den Rücken gekehrt haben und im Ausland eine berufliche Zukunft sehen.

Experten warnen noch aus einem anderen Grund vor einem Braindrain: Der Wirtschaftsboom des Landes ist längst zu Ende. Eine Studie des türkischen Arbeitgeberverbandes ergab, dass 73 Prozent der jungen Studenten in der Türkei später mal im Ausland leben und arbeiten wollen.

Die Bilanz der Experten im Auswärtigen Amt gibt dabei kaum Hoffnung, dass sich die Situation in der Türkei bald deutlich verbessern könnte: Die Meinungs- und Pressefreiheit werde in der Folge der „Säuberungen“ vielmehr zunehmend eingeschränkt. Die Rede ist von einem „Missbrauch der Justiz für persönliche Machtinteressen oder einer kaum kaschierten politischen Einflussnahme auf die Wissenschaft/Universitäten“. Man bescheinigt dem Land „insgesamt eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation und einen Rückschritt in der demokratischen Entwicklung“.

Die Meinungsfreiheit sei akut bedroht. Selbst in sozialen Medien finde sich keine Spur von Freiheit mehr: Äußerungen dort sind strafbar, wenn sie „als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können“, schreiben die Experten aus dem Auswärtigen Amt. Solche Äußerungen führten bereits zu „Strafverfolgung und Verurteilung“.

Deutlicher geht es kaum – und doch sind das noch nicht einmal die geschwärzten Passagen. Nicht veröffentlicht werden laut Auswärtigem Amt Sätze, in denen „wertende Aussagen“ zum Putschversuch oder zu Politikern getroffen werden. Die Bundesregierung fürchtet, dass deren Veröffentlichung die Beziehungen zur Türkei belasten würde. Man habe aber ein „großes Interesse an einer unvoreingenommenen Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen in der Türkei“.

Tatsächlich hat die Bundesregierung ein zwiespältiges Verhältnis zu Ankara. Die Wirtschaftsverbindungen sind noch immer sehr eng. Bis vor Kurzem hatten die Beziehungen zwischen den Partnern bei der Nato und im Kampf gegen irreguläre Migration ansonsten aber fast den Nullpunkt erreicht. Ankara hatte sich über die Armenien-Resolution des Bundestages empört. Berlin wiederum über die Säuberungen im Staatsapparat oder die willkürlichen Festnahmen von deutschen Staatsbürgern.

 

Nur langsam tauen beide Seiten wieder auf. Anders geht es wohl auch gar nicht: Erdogan jedenfalls nimmt in der Flüchtlingsfrage ähnlich wie 2016 Europa wieder in die Pflicht: Sein Land werde den Zustrom „nicht alleine schultern können“. Auch darum wird es wohl beim Treffen mit Angela Merkel gehen.

 

 

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