Der Thron von Sultan Erdogan wackelt
Berlin (DW) - Als Erdogan im Jahr 2003 an die Macht kam, galt er zunächst als liberaler Reformer, der die Türkei an Europa heranführen wollte. Doch Kritiker warnten schon damals, er sei ein „Wolf im Schafspelz“. Er habe den „Demokratie-Zug“ nur bestiegen, um ihn zum richtigen Zeitpunkt wieder zu verlassen.
Die Zweifler sollten Recht behalten: Erdogan hat diesen Zug tatsächlich wieder verlassen – gleich nachdem es ihm gelang, seine säkularen Rivalen in Militär und Justiz zu entmachten. Seither ist er zu einem völlig anderen Ziel unterwegs – in Richtung Sultanat. Eine Zeitreise in die osmanische Vergangenheit begann.
Erdogan dreht die Zeit zurück
In den Folgejahren konnte niemand den Reisenden aufhalten – souverän, fast schon virtuos, beseitigte er ein Hindernis nach dem anderen: Die Gezi-Park-Proteste, einen Korruptionsskandal oder einen Putschversuch überstand er mühelos. Im Juni 2018 führte er ein Präsidialsystem ein, das ihm als Staatsoberhaupt besondere Machtbefugnisse zusprach – das „Ein-Mann-Regime“ war geboren.
Heute thront der Sultan in einem neu errichteten 1000-Zimmer-Palast in Ankara. Sein Traum ist es, im Jahr 2023 – genau ein Jahrhundert nach der Gründung der modernen Türkei – ein neo-osmanisches Zeitalter einzuleiten. Doch kurz vor der Ziellinie wankt sein Thron. Das Jahr 2019 brachte die Wende – sein Traum droht zu zerplatzen.
Die Wirtschaftskrise der Anfang vom Ende
Erdogans Macht begann im Sommer 2018 zu bröckeln, als sich Fehlsteuerungen in der Wirtschaftspolitik nach und nach rächten. Um ein System der Vetternwirtschaft aufrecht zu erhalten, investierte er einseitig in die Baubranche. Daher ist die türkische Wirtschaft wenig produktiv und zurzeit in einer Krise mit heftigen Währungsturbulenzen. Die Arbeitslosigkeit liegt – besonders unter Jugendlichen – rekordverdächtig hoch. Verdruss in der Bevölkerung löste vor allem aus, dass die Preise für Grundnahrungsmittel wie Obst und Gemüse exorbitant in die Höhe schossen.
Bei den Kommunalwahlen Ende März erhielt Erdogan prompt die Quittung: Wichtige Metropolen gingen an die Opposition verloren. Besonders schmerzhaft war der Verlust Istanbuls – das unangefochtene Wirtschaftszentrum der Türkei mit einer prall gefüllten Stadtkasse. Gelder, die er dringend zum Machterhalt benötigt.
„Wer Istanbul verliert, verliert die ganze Türkei“
Erdogan wollte daher die Macht auf keinen Fall abgeben – er setzte die Wahlkommission unter Drück, erzwang Neuwahlen. Ohne Erfolg. Denn ein neuer Polit-Star trat plötzlich auf die Bühne: Ekrem Imamoglu.
Der Sozialdemokrat ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, dem Hass der Regierungspartei begegnete er mit Freundlichkeit. Imamoglu gewann den zweiten Wahlgang gegen Erdogans Kandidaten Binali Yildirim eindeutig. Und es wird nicht der letzte Streich gewesen sein: Imamoglu ist äußerst populär. Ihm werden sogar Chancen für das Präsidentenamt nachgesagt.
Druck von außen und innen
Erdogans empfindliche Wahlniederlage ist das Resultat aus seiner Strategie der Polarisierung, und auch das rächte sich. Verschiedenste Oppositionsparteien - Islamisten, Nationalisten, Sozialdemokraten und Linksliberale - haben erstmalig ihre Kräfte gegen den gemeinsamen Feind Erdogan vereint, trotz aller politischen Differenzen.
Auch in den eigenen Reihen zerfällt seine Macht - knapp eine Million Mitglieder sind bereits aus Erdogans AKP ausgetreten. Alte Weggefährten - wie der Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der ehemalige Finanzminister Ali Babacan oder Ex-Präsident Abdullah Gül - gründen neue Parteien. Sie werden Erdogan wichtige Wählerstimmen aus dem konservativen Lager kosten.
Mit viel Durchhaltevermögen und starkem Willen hat es Erdogan in 16 Jahren zum Sultan der Türkei gebracht. Mit geradezu monarchischer Machtfülle ausgestattet, schien er unangefochten in seinem Thron zu sitzen. Doch das Jahr 2019 brachte überraschend die Wende, vieles spielt jetzt gegen den Sultan.
Im Jahr 2023 feiern Türken den 100. Jahrestag der Gründung der modernen Türkei - den Tag, der an die Abschaffung des Sultanats erinnert.