Mehr Ermittlungsverfahren gegen Deutsche in der Türkei seit Sommer
Berlin (Welt) - Der Verfolgungsdruck auf Oppositionelle im In- und Ausland durch das Erdogan-Regime ist weiterhin hoch. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die WELT vorliegt.
Insgesamt 58 Deutsche sitzen derzeit wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe in der Türkei in Haft. 13 von ihnen, weil sie verdächtigt werden, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein.
Unter ihnen sind vier Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Zehn der 13 Inhaftierten wurden seit dem fehlgeschlagenen Militärputsch im Sommer 2016 festgenommen, allein fünf von ihnen seit August dieses Jahres.
Die Linke-Politikerin und Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Sevim Dagdelen, hatte Auskunft über die „polizeilich-justizielle Zusammenarbeit mit der Türkei“ verlangt.
Zur Antwort sagt sie: „Die Bundesregierung schaut weiterhin zu, wie deutsche Staatsbürger in der Türkei mittels abstruser Terrorvorwürfe verfolgt werden, nur weil sie schlicht ihre Grundrechte wie Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit in Deutschland wahrnehmen.“ Die Regierung habe keine erkennbare Strategie, „um die eigenen Bürger vor der Willkür des Erdogan-Regimes wirksam zu schützen“.
71 Deutschen wird die Ausreise verwehrt
Der Bundesregierung sind mit Stand Anfang Dezember 71 Fälle von deutschen Staatsangehörigen bekannt, die aufgrund von Ausreisesperren die Türkei nicht verlassen dürfen. Im März waren es noch 38 gewesen. Die Zahl der Einreiseverweigerungen hingegen fiel von 80 auf bislang 16 Fälle dieses Jahr.
Dass die Zahl der Einreisesperren zurückgegangen ist, könnte auch daran liegen, dass weniger Personen in die Türkei reisen, die sich kritisch gegenüber der türkischen Regierung äußern.
Unabhängig von den einzelnen Haftfällen warnt die Bundesregierung in ihren Reise- und Sicherheitshinweisen schon seit Längerem, dass in der Türkei seit Anfang 2017 „vermehrt deutsche Staatsangehörige willkürlich festgenommen“ oder mit einer Einreise- oder Ausreisesperre belegt werden.
Aus der Antwort der Bundesregierung geht auch hervor, dass Ankara 2019 bislang 67 Auslieferungsersuchen an Deutschland gestellt hat. Von den 25 bislang abgeschlossenen Verfahren wurden 17 Ersuchen abgelehnt. In einem Fall erfolgte eine Bewilligung. 2018 waren es insgesamt 64 Ersuchen gewesen. Die Zahl der Rechtshilfeersuchen ging jedoch zurück.
Zu der Anzahl der Ermittlungsverfahren, die der Generalbundesanwalt im laufenden Jahr wegen des Verdachts der „geheimdienstlichen Agententätigkeit für türkische Geheimdienste“ eingeleitet hat, wollte sich die Bundesregierung aus „Gründen des Geheimschutzes“ nicht öffentlich äußern.
Noch bis Frühjahr dieses Jahres hatte die Regierung entsprechende Anfragen beantwortet: 2018 gab es drei Ermittlungsverfahren – gegen aus der Türkei entsandte Imame der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib).
Die Verfahren wurden eingestellt – unter anderem, weil sich die Beschuldigten ins Ausland abgesetzt hatten. Seit 2013 hat der Generalbundesanwalt insgesamt 24 dieser Verfahren mit Bezug zur Türkei geführt – allein 13 davon entfielen auf das Kalenderjahr 2017.
Die Türkei nutzt auch weiter die internationale Fahndungsbehörde Interpol für das Aufspüren von Straftätern und Oppositionellen im Ausland: 310 Fahndungsersuchen hat das Bundeskriminalamt (BKA) seit Anfang Januar bis Mitte November von den türkischen Behörden erhalten, davon 290 zur Festnahme und 20 zur Aufenthaltsermittlung. 2018 waren es 356 gewesen.
Damit hat das BKA seit 2016 mehr als 1680 Ersuchen von türkischen Behörden erhalten. Wie viele Ersuchen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit betreffen und wie vielen dieser Anfragen tatsächlich entsprochen wird, ist unbekannt. In der Regel bleiben derartige Ersuchen aus der Türkei folgenlos.
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen findet: „Es muss in jedem Falle ausgeschlossen sein, dass die Bundesregierung und ihre nachgeordneten Behörden sich bewusst oder unbewusst zum Handlanger der Türkei bei der Verfolgung von Oppositionellen machen.“ Die geheimdienstliche und sicherheitspolitische Kooperation mit Erdogan sei angesichts des „nachgewiesenen politischen Missbrauchs der Zusammenarbeit“ nicht haltbar.
Der Druck auf Regimekritiker hat zusammen mit der Wirtschaftskrise in der Türkei dazu geführt, dass die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei in Deutschland seit 2016 stark anstieg. Im Januar registrierten die deutschen Behörden 851 Schutzsuchende aus der Türkei, seit Juli liegen die Gesuche über der 1000er Marke. Im Oktober waren es 1049. Etwa jeder Zweite erhält Schutz in Deutschland.
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Seit dem Putschversuch kam es in der Türkei nach Schätzungen der Bundesregierung zu etwa 130.000 Festnahmen. Etwa 27.000 Personen befinden sich noch in Haft.
Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger FethullahGülen für den Putschversuch verantwortlich. Seitdem werden seine Anhänger – aber auch Journalisten und Menschenrechtler – systematisch beobachtet und verfolgt.