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Deutsche IS-Kämpfer & Anhänger bitten um Rückkehr aus kurdischen Gefängnissen nach Deutschland

Mittwoch 01.Januar.2020 - 03:51
Die Referenz
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Berlin (Fokus) - Aus der langen SMS spricht Verzweiflung. Die Zustände im kurdischen Gefangenenlager Al-Hol in Nordostsyrien seien menschenunwürdig, schreibt Meryem S. (Name geändert). „Wir leben hier in einem Chaos“, berichtet die 20 Jahre alte mutmaßliche Anhängerin der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) am 22. Dezember in einer Handy-Nachricht, die FOCUS Online vorliegt.

„Gestern wurde ein Kind erschossen“

In die Zelte der 70.000 Internierten, bei denen es sich meist um Angehörigen von IS-Kämpfern handelt, regne es dauernd hinein. Es sei kalt, die Decken seien feucht. Die Toiletten, das Trinkwasser, das ganze Camp – alles starre vor Dreck und Müll, führt die Mutter eines kleinen Sohnes aus. „Die Kinder werden oft davon krank.“ Es gebe keine Ärzte. Verletzten werde kaum geholfen. Zudem mache eine Rattenplage den Internierten zu schaffen.

Die kurdischen Wacheinheiten agierten mitunter sehr rabiat, manche klauten oder verteilten Hilfsmittel nur gegen Bezahlung. „Gestern wurde ein Kind erschossen“, behauptet Meryem S., die aus dem pfälzischen Idar-Oberstein stammt. Einen Tag müsse man anstehen, um Gas zu erhalten. „Wenn’s denen zu viel wird, dann bedrohen sie uns mit Elektroschockern oder ihren Schusswaffen.“

Hunderte Kinder starben

Die Schilderung deckt sich mit Berichten der Vereinten Nationen (UN). Laut der UN sind bereits mehrere hundert Kinder in Al-Hol durch Unterernährung und Infektionen gestorben. In Al-Hol und anderen kurdischen Lagern sitzen schätzungsweise knapp 200 deutsche Frauen und Kinder fest.

Liebend gerne würde Meryem S. mit ihrem kleinen Sohn dieses Dasein hinter sich lassen. „Sie möchte wieder nach Hause“, erklärt ihr deutscher Anwalt Serkan Alkan, der sich in den kommenden Wochen beim Auswärtigen Amt (AA) um die Rückführung seiner Mandantin bemühen wird. „Allerdings weiß ich von Kollegen, dass die Chancen auf Hilfestellung durch die Bundesregierung gering sind“.

Maas: „außerordentlich schwierig“

Berlin tut sich derzeit schwer in der Rückkehrer-Problematik. Die Lage sei unüberschaubar, heißt es. Offiziell weist das Auswärtige Amt daraufhin, dass die autonome Kurdenregion in Syrien kein Staat sei, mit dem man über Auslieferungen deutscher IS-Kämpfer oder ihrer Familien verhandeln könne. In dem Kontext betonte Außenminister Heiko Maas (SPD), wie „außerordentlich schwierig Rückholungen zu realisieren“ seien. Dabei müsse man sicherstellen, dass die Betroffenen in Deutschland „unmittelbar in Gewahrsam genommen werden können“.

Bundesweit registrierten die Staatsschützer insgesamt 1050 Ausreisen zu den Terrorkadern. Ein Drittel ist inzwischen wieder zurückgereist. Wie viele Kämpfer an der Front starben, ist unklar. Bei 160 deutschen IS-Schergen hat sich laut einem Bericht der Bundesregierung die Spur verloren.

„Die Bundesregierung tut nichts“

Nach dem Fall der letzten IS-Gebiete sollen allein 81 deutsche IS-Anhängerinnen und Anhänger in syrischen Gefangenenlagern einsitzen. Drei Viertel von ihnen besitzen einen deutschen Pass so wie die Deutsch-Somalierin Meryem S.

 

Der Kölner Anwalt Alkan wirft dem Auswärtigen Amt Untätigkeit vor. „In den Gefangenenlagern Al-Hol sterben hunderte Kinder und die Bundesregierung tut nichts, um deutsche Staatsbürger zurückzuholen. Das ist ein Skandal.“ Dabei sei es kein Geheimnis, dass Beamte des Bundeskriminalamts und des Bundesnachrichtendienstes vor Ort laufend Vernehmungen durchführten, so Alkan.

In dem Zusammenhang verweist der Jurist auf aktuelle Urteile, die zu einem Rücktransfer deutscher IS-Frauen und Kinder verpflichten. Im November erst wies das Oberverwaltungsgericht in Berlin die Bundesregierung an, eine Extremistin aus Wolfsburg und ihre drei Kinder zurückzuholen. Auf die Mutter kommt hierzulande ein Terror-Verfahren wegen der IS-Mitgliedschaft zu. Ein richtungsweisender Beschluss: Zumindest bei deutschen Frauen und deren Kindern, die in syrischen Kurdenlagern festsitzen, muss Berlin nun handeln. Auch wenn zu Hause das Gefängnis auf die Rückkehrerinnen warten sollte.

Mit 15 Jahren zum IS

Dieses Schicksal droht etwa Meryem S. aus dem pfälzischen Idar-Oberstein. Gegen die junge Islamistin ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Laut Behördensprecher Mario Mannweiler reiste die Beschuldigte als 15-jährige Schülerin mit ihrer Schwester, dem älteren Bruder und dessen Frau am 9. September 2014 über die Türkei nach Syrien zu der Terror-Miliz aus.

In der syrischen IS-Hochburg Raqqa heiratete sie einen Kämpfer der Kalifatsbrigaden und gebar ihm einen Sohn. „Es gibt konkrete Hinweise, dass sie auch Umgang mit Waffen hatte“, erklärt der Leitende Oberstaatsanwalt gegenüber FOCUS Online. Via Messenger-Nachrichten soll die Eiferin die Gräueltaten des IS gerechtfertigt haben. „Sie gab an, nur dort ihren Glauben leben zu können“, teilt Mannweiler mit.

800 Dollar für den toten Bruder

Der Traum vom segensreichen Leben in einem islamischen Gottesstaat endete alsbald: Meryems Bruder Sadiq befehligte nach einem Lehrgang am Schnellfeuergewehr AK-47 eine IS-Kampfeinheit. Zunächst war er an den Gefechten um die überwiegend von Kurden bewohnte Stadt Kobane in Nordsyrien beteiligt. Den deutschen Behörden liegen unbestätigte Hinweise vor, dass der 24-jährige Deutsch-Somalier Mitte März 2015 bei einem Gefecht mit kurdischen Milizen der YPG ums Leben kam. Seine Ehefrau, eine deutsche Konvertitin aus Brandenburg, soll nach seinem Tod 800 US-Dollar aus der Kasse des selbst ernannten Kalifats erhalten haben.

Auch der Mann seiner jüngeren Schwester Meryem soll getötet worden sein. Nach dem Fall Raqqas im November 2017 fielen die überlebenden Geschwister S. nebst ihren Kindern offenbar in die Hände der siegreichen SDF-Allianz, die aus kurdischen Freischärlern und sunnitisch-arabischen Rebellen besteht. Desillusioniert vom Dschihad wollen Meryem S. und ihre Verwandten nur noch eines: nach Hause.

Die Angst vor einer Rückreisewelle

Nichts fürchten hiesige Sicherheitsbehörden indes mehr als eine große Rückreisewelle. Zumal etliche Mütter und deren Nachkommen stark radikalisiert sind. Gut ein Drittel, so konstatieren die nordrhein-westfälischen Verfassungsschützer, agitiere auch nach seiner Heimkehr in militant-islamistischen Schwesternzirkeln. Bereits deutlich wahrnehmbar sei ein Anstieg der Aktivitäten von Frauen in den sozialen Netzwerken. Ausreisende, Zurückgekehrte und in Deutschland verbliebene Salafistinnen verhalten sich den Angaben zufolge in einschlägigen Foren zunehmend gewaltbereit.

 

Verstärkt geben Mädchen und Frauen in der radikal-islamischen Salafistenszene an Rhein und Ruhr den Ton an. Das hat den einfachen Grund, dass viele IS-Kämpfer und Agitatoren entweder in deutschen oder kurdischen Gefängnissen einsitzen oder in Syrien und im Irak gefallen sind.

Seit dem Niedergang des IS in der Levante und der militärischen Offensive der Türkei in den autonomen nordsyrischen Kurdenregionen verändert sich die Lage beinahe täglich. Nach Erkenntnissen der Landesverfassungsschützer sitzen zirka 44 Personen aus NRW in Syrien und dem Irak ein. Insgesamt halten sich noch 110 Personen aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland in den Krisengebieten an Euphrat und Tigris auf.

Kindergarten verboten

Zugleich machen die extremistische Schwesternnetzwerke hierzulande mobil. Das NRW-Innenministerium spricht von etwa 100 salafistischen Familienverbänden nebst Dutzenden Nachkommen. Es bestehe die Gefahr, dass die Frauen ihren Nachwuchs sehr extremistisch erziehen, heißt es weiter. So werde den Kindern das Zählen und Buchstabieren am Beispiel von Waffen und Kriegsmaterial beigebracht. Die Szene schottet sich denn auch strikt ab. Der Besuch hiesiger Kindergarten ist strikt verboten. Auf diese Weise wachse eine „zweite Generation“ heran, die bereits von klein auf den Kampf gegen die Ungläubigen eingeimpft bekomme, lautet das Fazit.

Folglich befindet sich die hiesige Staatsmacht in einem Dilemma: Auf der einen Seite verlangt das Grundgesetz eine Rücknahme der IS-Kämpfer und ihrer Angehörigen, die über einen deutschen Pass verfügen. Dagegen spricht allerdings das Sicherheitsrisiko: Schon jetzt können Polizei und Verfassungsschutz beileibe nicht jeden der knapp 680 islamistischen Gefährder bundesweit überwachen. Es fehlt am Personal. Für die dauerhafte Observation eines Dschihadisten der höchsten Risikoklasse sind täglich 25 Polizeibeamte nötig. Sollten nun auch noch Hunderte inhaftierte IS-Kader aus Syrien und dem Irak gleichzeitig freikommen und nach Hause reisen, würde dies die Überwachungsorgane überfordern.

Die NRW-Staatschützer unterziehen alle IS-Rückkehrer einer Gefahrenanalyse. Versiert im Umgang mit Waffen und Sprengkörpern, gelten etliche deutsche Mudschahedin als tickende Zeitbomben.

„Wir sind eine tickende Bombe“

Die Innenminister der Länder drängen auf eine kontrollierte Rückreise der Extremisten. Sollten die Anhaltspunkte nicht für die Einleitung von Strafverfahren genügen, „werden die Rückkehrer von den Sicherheitsbehörden engmaschig überwacht“, teilte ein Sprecher aus dem Innenministerium in Düsseldorf mit. Vor dem Hintergrund haben die Staatsschützer einen „zentralen Rückkehrkoordinator“ installiert. Der Experte soll in aktuellen Fällen Ideen entwickelt, um Teile der radikalen Klientel wieder in das Normalleben zu integrieren.

Derlei Vorbehalte kümmern Meryem S. nicht. Im Lager Al-Hol haben sich neue Fronten aufgetan: Durch die prekäre Lage vieler Insassen erhalten extremistische IS-Kreise erneut Zulauf. In einem Video aus dem Camp, das der US-Sender CBS veröffentlichte, drohte eine verschleierte Frau kürzlich den westlichen Industriestaaten: „Wir sind eine tickende Bombe. Ihr werdet schon sehen.“

Akademie für den Gottesstaat

Die Situation in Al-Hol droht mitunter aus dem Ruder zu laufen. Bei einem Schusswechsel mit weiblichen kurdischen Sicherheitskräften kam eine IS-Anhängerin ums Leben. Die Unruhen begannen, als Wachleute gegen Geheimgerichte der Terrormiliz vorgingen, die etwa eine Frau wegen Verstößen gegen die IS-Ideologie zum Tode verurteilt hatten. Die Abtrünnige wurde kurdischen Medien zufolge erstochen. 

Al-Hol sei eine „Akademie“ für den „Islamischen Staat“, sagte ein kurdischer Geheimdienstler der „Washington Post“. Die Terrororganisation kommuniziert demnach über Messaging-Apps mit den Insassen, ruft zu Spenden für die Inhaftierten auf und schickt laut „Tagesspiegel“ Anleitungen zum Bombenbau sowie Propagandamaterial ins Camp.

Vor seinem Tod hat der sogenannte IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi seine verbliebenen Kämpfer dazu aufgerufen, die Gefangenen aus den kurdischen Lagern zu befreien. Die NRW-Verfassungsschützer gehen davon aus, dass auch sein Ende „weder die verbliebenen Organisationsstrukturen des IS noch seine Operationsfähigkeit geschwächt hat.“ Nicht im arabisch-nordafrikanischen Großraum, und erst recht nicht in Westeuropa und Deutschland. „Der IS ist für extremistische Salafisten und Dschihadisten attraktiv“, erläutert eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums FOCUS Online. „Seine Ideologie und seine Anhängerschaft stellen auch gegenwärtig eine ernstzunehmende Bedrohung der inneren Sicherheit in Deutschland und Europa dar.“

 

 

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