Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Merkel: "Ich empfinde tiefe Scham" Einen Schlussstrich könne es nicht geben.

Samstag 07.Dezember.2019 - 12:16
Die Referenz
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Die Kanzlerin sprach bei ihrem ersten Besuch in dem NS-Vernichtungslager von einer nie endenden Verantwortung. Es sei wichtig, zu benennen, dass die Täter Deutsche waren. 

Angela Merkel hat sich im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zur deutschen Verantwortung an den NS-Verbrechen bekannt. Einen Schlussstrich könne es nicht geben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich bei ihrem Besuch im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz betroffen angesichts der von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen geäußert. "Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden", sagte Merkel in Anwesenheit des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Angesichts der Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschritten, müsse man vor Entsetzen eigentlich verstummen, sagte Merkel weiter. Dennoch dürfe das Schweigen nicht die einzige Antwort sein. Deutschland sei verpflichtet, die Erinnerung an die damaligen Verbrechen wach zu halten.

Es sei wichtig, deutlich zu benennen, dass damals Deutsche die Täter gewesen seien, forderte die Bundeskanzlerin. Dies sei man auch den Opfern schuldig. Die Verantwortung für die damaligen Taten gehörten untrennbar zu Deutschland, sie seien fester Teil der nationalen Identität. "Einen Schlussstrich kann es nicht geben und auch keine Relativierung." Dass es heute wieder jüdisches Leben in Deutschland gebe, sei ein großes Geschenk, dass fast einem Wunder gleiche.

Zugleich warnte Merkel vor zunehmendem Antisemitismus. Zurzeit gebe es wieder mehr Angriffe auf die liberale Demokratie, es gebe zunehmenden Rassismus und Hass sowie Antisemitismus. "Wir dulden keinen Antisemitismus. Alle Menschen in Deutschland und Europa müssen sich sicher und zu Hause fühlen", mahnte Merkel. 

Auch Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warnte in seiner Rede vor dem Vergessen. Es gebe immer weniger Zeitzeugen. Umso größer sei die Verpflichtung, die Erinnerung zu bewahren und zu pflegen, sagte Morawiecki. Der polnische Staat verpflichte sich, die Erinnerung an die Verbrechen von Nazideutschland aufrechtzuerhalten.  "Wenn die Erinnerung geht, hätten wir zum zweiten Mal diese Menschen verletzt, die hier so gelitten haben." 

Erster Besuch Merkels in Auschwitz

Vor ihrer Rede hatte Merkel im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus das Stammlager Auschwitz und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besucht. An der sogenannten Schwarzen Wand im Stammlager Auschwitz hielt sie für eine Gedenkminute inne und legte einen Kranz an der Todeswand nieder. Dort waren Tausende Häftlinge exekutiert worden. Zuvor hatte die Kanzlerin eine Gaskammer und ein Krematorium besichtigt.  

Merkel wurde dabei von Morawiecki und dem Direktor der Gedenkstätte und Präsidenten der Stiftung Auschwitz-Birkenau, Piotr Cywiński, begleitet. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Josef Schuster und Romani Rose, begleitete die Kanzlerin.

Zusammen gingen Merkel, Morawiecki und Cywiński auch durch das Tor mit dem berüchtigten, menschenverachtenden Schriftzug "Arbeit macht frei". Außerdem besichtigte Merkel Häftlingsblöcke, in denen Ausstellungsstücke wie leere Dosen des Giftes Zyklon B zu sehen sind, mit dem Menschen in Auschwitz vergast wurden. Anschließend besuchte die Kanzlerin den nahe gelegenen Komplex des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

"Ganz wichtiges Zeichen"

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte den Besuch von Merkel im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vorab als wichtig und symbolträchtig bezeichnet. Er bewerte die Reise "ausgesprochen positiv", sagte Zentralratspräsident Josef Schuster. Die Kanzlerin setze knapp zwei Monate nach dem Anschlag von Halle und in einer Zeit, in der "ein Rechtsruck in der Gesellschaft" zu beobachten sei, ein "ganz wichtiges Zeichen".

Merkel kommt auf Einladung der Stiftung Auschwitz-Birkenau, die ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Diese war 2009 mit dem Ziel gegründet worden, den Erhalt der Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers sicherzustellen.

Mit ihrem Besuch unterstreiche Merkel ihre "sehr klare Haltung" zu den Verbrechen der Nazis, die sie zu jedem Zeitpunkt ihrer Kanzlerschaft zum Ausdruck gebracht habe, sagte Schuster. Für ihn sei es daher auch kein Anlass zu Kritik, dass die 65-Jährige erst 14 Jahre nach ihrem Amtsantritt nach Auschwitz reise. Merkel ist erst die dritte deutsche Regierungschefin, die das frühere KZ besucht. Unter ihren Vorgängern waren nur Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) während ihrer Kanzlerschaften in Auschwitz.

Die Kanzlerin besuchte während ihrer Amtszeit bisher viermal die Holocaust-Gedenkstätte Jad Waschem in Jerusalem. Sie erklärte die historische Verantwortung und die Sicherheit Israels zu einem Teil der deutschen Staatsräson. 2009 begleitete Merkel Barack Obama nach Buchenwald, an dessen Befreiung ein Großonkel des US-Präsidenten beteiligt gewesen war. 2013 besichtigte sie das ehemalige Lager Dachau.

"Manchmal reicht eine Geste"

Der polnische Auschwitz-Überlebende Marian Turski sieht den Besuch der Kanzlerin ebenfalls als wichtige Geste. Allein die Tatsache, dass Merkel dorthin fahre, habe für ihn Bedeutung, sagte er. "Manchmal reicht eine Geste. Wie bei Brandt, dessen Kniefall wichtiger ist als alle Reden." Der heute 93-jährige Turski wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Der Journalist ist Mitbegründer des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. "Angela Merkel hat sich schon oft mit großem Mut zur deutschen Vergangenheit geäußert", sagte Turski. Für ihn sei es daher weniger entscheidend, was die Kanzlerin in Auschwitz genau sagen werde. Allerdings könnten viele Polen Erwartungen an eine solche Rede haben. Turski verwies auf die Reden, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Weltkriegsgedenkfeier am 1. September in Wieluń und Warschau gehalten hatte. Steinmeier hatte Polen um Vergebung für die historische Schuld gebeten.

Stiftung bekommt Unterstützung

Am Vortag hatten Bund und Länder beschlossen, den Erhalt der Gedenkstätte am ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau mit bis zu 60 Millionen Euro zu unterstützen. Den Betrag wollen sie je zur Hälfte zum Kapitalstock der Stiftung beisteuern. Merkel sagte, sie sei "sehr froh" über den Beschluss.

Am 27. Januar 2020 jährt sich zum 75. Mal der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers. Auschwitz-Birkenau war im Zweiten Weltkrieg im damals von Hitler-Deutschland besetzten Polen das größte NS-Vernichtungslager. Etwa 1,1 Millionen Menschen wurden dort ermordet, die meisten von ihnen waren Juden.

 

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