Keine Ausreden mehr, Berlin!
Dass das Vertrauen in die Nato bröckelt, ist nicht nur Trumps, sondern auch Deutschlands Schuld. Die Bundesrepublik muss sich bei Abschreckung und Verteidigung stärker engagieren – zu ihrer eigenen Sicherheit.
Die Nato ist an ihrem 70. Geburtstag laut dem französischen Präsidenten also nicht nur "hirntot". Nein, um das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte steht es seiner Ansicht nach offenbar noch schlechter. Auf die Frage des britischen Nachrichtenmagazins Economist, ob er noch an das zentrale Bekenntnis der Allianz glaube, an das gegenseitige Versprechen nämlich, dass bei einem Angriff auf einen Mitgliedsstaat ihm die anderen Mitglieder zu Hilfe kommen, antwortete Emmanuel Macron: "Ich weiß es nicht."
Ich hingegen weiß es. Die Antwort ist ein klares und unzweideutiges Ja! Ich habe der Nato in fünf Verwendungen gedient, auf dem Balkan, in Afghanistan, der Türkei und in Deutschland. Von November 2014 bis Ende 2017 war ich der Generalkommandeur der US-Armee in Europa. Über all diese Dienstjahre habe ich nicht nur eng mit unseren Verbündeten zusammengearbeitet, sondern auch nie daran gezweifelt, dass die Allianz bei einem bewaffneten Angriff auf eines ihrer Mitglieder deutlich reagieren würde.
Deswegen war die Kritik richtig, die den Äußerungen von Präsident Macron entgegenschallte. Zugleich ist aber auch die kritische Diskussion wichtig, die sie ausgelöst haben. Unmittelbar vor dem Nato-Gipfeltreffen diese Woche in London sah sich vor allem die deutsche Regierung unter Druck gesetzt. Denn Frankreich verfügt über Atomwaffen und einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, weshalb die Franzosen in gewissem Maße über "strategische Autonomie" reden können.
Deutschland hingegen hat weder Atomwaffen noch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat, weshalb die Nato über Jahrzehnte von den verschiedenen deutschen Regierungen als die zentrale sicherheitspolitische Säule angesehen wurde. Wenn die Nato tatsächlich "hirntot" wäre, hätte vor allem Deutschland sehr viel zu verlieren.
Nur, wenn das so ist, wenn die Nato für die Sicherheit Deutschlands so überragend wichtig ist, warum leistet die Bundesrepublik dann nicht ihren erforderlichen Beitrag, um das Bündnis stark zu halten? Es ist leider nicht auszuschließen, dass der amerikanische und der französische Präsident die Nato untergraben wollen – oder gar in Betracht ziehen, das Bündnis zu verlassen. Wenn Deutschland dies verhindern will, muss es eine sichtbarere, dynamischere Präsenz innerhalb des Bündnisses entwickeln – und sich entsprechend seiner Größe einbringen.
Stattdessen herrscht in Berlin eine frustrierende strategische Trägheit; jede ernsthafte öffentliche Debatte über die strategische Rolle Deutschlands in der Welt wird durch eine Abneigung erstickt, sich überhaupt mit solchen Fragen auseinanderzusetzen.
Am sichtbarsten ist das Versagen Deutschlands, den notwendigen Willen zum Erhalt der Nato aufzubringen, bei den Verteidigungsausgaben. Entgegen seiner Verpflichtung schafft es das Land noch immer nicht, mehr in seine eigene Verteidigung zu investieren – und damit seinen Beitrag zur kollektiven Sicherheit zu leisten. Momentan erfüllen gerade einmal acht der neunundzwanzig Nato-Mitgliedsländer die Verpflichtung, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aufzuwenden. Bis zum vereinbarten Zieldatum 2024 wird sich diese Zahl jedoch noch erheblich verbessern; die meisten Länder dürften das Ziel bis dahin erreichen. Deutschland gehört – Stand heute – nicht dazu.
Die Deutschen beklagen häufig, dass Präsident Trump "die Nato zerstört". Diese Aussage ist zwar überzogen, aber in der Tat ist es alles andere als hilfreich, wenn Donald Trump Zweifel an Amerikas Solidarität mit unseren europäischen Verbündeten aufkommen lässt.
Allerdings ist es ebenso schädlich für den Bündniszusammenhalt, wenn eines der wohlhabendsten Mitglieder weder seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt, noch sein politisches Gewicht so ins Bündnis einbringt, wie es dies könnte. Dazu würde gehören, für ein zufriedenstellendes Einsatzniveau der Bundeswehr zu sorgen. Eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets auf die vereinbarten zwei Prozent müsste dabei keine wesentlich größere Bundeswehr bedeuten – aber eine modernere und besser einsatzbereite. Verbesserungsbedarf gibt es auch bei den Abwehrmöglichkeiten von Cyber-Angriffen auf kritische Infrastrukturen sowie bei der Luft- und Raketenabwehr.
Der aktuelle Zustand der Bundeswehr ist das Ergebnis politischer Entscheidungen, die bereits vor Jahren getroffen wurden. Und es wird einige Zeit dauern, das Geld zur Verfügung zu stellen, um die offensichtlichen Defizite zu beheben. Die Führungskräfte der Bundeswehr arbeiten derweil intensiv daran, das Beste aus der Lage zu machen. Dafür verdienen sie mehrUnterstützung durch Politik und Öffentlichkeit.
Berlin muss seine strategische Trägheit aber auch beenden, wenn es um politische Führung innerhalb des Bündnisses geht. Denn genau das erwarten die anderen Nato-Mitglieder von der Bundesrepublik. Stattdessen höre ich so viele Ausreden, warum Deutschland nicht führt oder nicht führen kann: "unsere Geschichte", "unsere Nachbarn wären besorgt" und so weiter und so fort.
Keine dieser Ausreden ist einer Nation würdig, die 70 Jahre lang bewiesen hat, dass sie eine liberale Demokratie mit hohen moralischen Standards ist und die Europas größte Volkswirtschaft aufgebaut hat. Die Deutschen müssen wieder Vertrauen zu sich selbst gewinnen. Ich habe noch nie jemanden aus Polen oder Frankreich sagen hören, dass eine stärkere und effektivere Bundeswehr ihm Sorgen machen würde. Ganz im Gegenteil, wenn Polen, Litauer oder auch Amerikaner an die deutschen Streitkräfte denken, dann wünschen sie sich ein stärkeres Engagement der Deutschen bei der Abschreckung und Verteidigung.
Wenn Deutschland aufgrund seiner Geschichte tatsächlich eine historische Verantwortung hat, dann liegt diese darin, sich als starker Staat in die Gemeinschaft der demokratischen Nationen einzubringen.
Die Bundesrepublik hat sehr davon profitiert, dass die Nato – insbesondere die USA – dem Land militärische Sicherheit garantiert hat. Es ist daher überfällig, dass Deutschland einen Schritt nach vorne macht – ja, mit gutem Beispiel in der Nato und in Europa vorangeht. Wenn Berlin das jedoch nicht schafft und die USA gleichzeitig ihre Rolle in Europa minimieren, welche Konsequenzen müsste Deutschland dann tragen? Wäre Deutschland wirklich darauf vorbereitet?
Glücklicherweise spüre ich in Deutschland derzeit wenigstens etwas mehr Bereitschaft, sich über die strategische Rolle des Landes in der Welt auseinanderzusetzen. Immer mehr Bundestagsabgeordnete äußern sich zur deutschen Führungsverantwortung, und auch in privaten Gesprächen höre ich immer häufiger, wie sehr sich viele Deutsche für den Zustand der Bundeswehr und die fehlende strategische Führung durch die Politik schämen. Die Ankündigung von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die vereinbarten zwei Prozent des BIP bei den Verteidigungsausgaben bis 2031 erreichen zu wollen, war eine gute Nachricht – peinlich nur, dass es sieben Jahre länger dauern wird, als 2014 auf dem Nato-Gipfel von Wales vereinbart.
Was die Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika angeht, bin ich trotz allem zuversichtlich. Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es noch immer unzählige Menschen, die für die gemeinsamen Werte einstehen, die uns in all den Jahren zusammengehalten haben. Es sind die Werte, die andere Nationen erst dazu gebracht haben, der Nato und der EU beitreten zu wollen.
Anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sprach Präsident George H. W. Bush von der "Liebe zur Freiheit". Er sagte damals außerdem: "Auch wenn Deutschland diesen Neuanfang feiert, besteht kein Zweifel daran, dass die Zukunft neue Herausforderungen und neue Verantwortlichkeiten birgt" – und er wünschte sich, dass die USA und Deutschland "Partner in der Führung" sein würden.
Dreißig Jahre später warten wir noch immer darauf, dass sich dieser Wunsch erfüllt. Aber das ist kein Grundaufzugeben.