Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Anzeichen für Moskaus Beteiligung an der Ermordung eines tschetschenischen Dissidenten in Berlin

Dienstag 03.Dezember.2019 - 09:49
Die Referenz
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Beamte der Spurensicherung bei der Arbeit am Tatort Kleiner Tiergarten in Berlin-Moabit, wo Selimchan Changoschwili erschossen wurde

Neue Spuren nähren den Verdacht, dass russische Geheimdienste hinter einem Attentat in Berlin stehen. Die Bundesregierung erwägt diplomatische Maßnahmen.

Den deutsch-russischen Beziehungen droht eine neue Belastungsprobe. Die Bundesregierung geht mittlerweile davon aus, dass russische Geheimdienste in einen Auftragsmord verwickelt sind, der Ende August mitten in Berlin stattfand und für internationales Aufsehen gesorgt hatte. Anlass sind neue Hinweise zur Identität des mutmaßlichen Attentäters. Generalbundesanwalt Peter Frank steht nach Informationen der ZEIT kurz davor, die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Mörder und die Hintermänner an sich zu ziehen.

Damit stünde offiziell der Verdacht im Raum, dass Russland einen Akt des Staatsterrorismus begangen hat. Bislang hatten das Kanzleramt und das Auswärtige Amt stets darauf verwiesen, dass es für eine russische Beteiligung keine belastbaren Hinweise gebe. Dementsprechend hatte Berlin auf diplomatische Konsequenzen verzichtet.

Die veränderte Lage könnte nicht nur zur Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt führen, sondern auch zu politischen Gegenmaßnahmen. Üblicherweise werden in einem solchen Fall Diplomaten des Landes verwiesen, um ein Zeichen zu setzen. Im Fall des Anschlags auf den Überläufer Sergej Skripal 2018 in Großbritannien hatten 15 europäische Länder mit abgestimmten Reaktionen geantwortet und insgesamt mehr als 30 russische Diplomaten zurück nach Moskau geschickt. Und tatsächlich wird derzeit in Kreisen der Bundesregierung erwogen, einen oder mehrere russische Geheimdienstmitarbeiter aus Deutschland auszuweisen.

Schüsse in den Kopf

Der Exil-Georgier Selimchan Changoschwili war am 23. August gegen Mittag im Kleinen Tiergarten im Berliner Stadtteil Moabit von einem Fahrradfahrer mit drei Schüssen ermordet worden. Die erste Kugel traf Changoschwili von hinten, anschließend schoss ihm der Attentäter zweimal aus nächster Distanz in den Kopf, offenbar, um sicherzugehen, dass das Opfer auch wirklich tot ist. Anschließend versenkte er die Tatwaffe, sein Fluchtfahrrad sowie eine Perücke in der Spree.

Zwei Jugendliche beobachteten, wie der Mörder danach in ein Gebüsch flüchtete und sich dort umzog. Sie alarmierten die Polizei, die den Mann noch vor Ort festnehmen konnte. Der mutmaßliche Mörder wies sich als Vadim Sokolov aus, russischer Staatsbürger aus St. Petersburg, der kurz vor dem Attentat über Paris und Warschau nach Berlin gereist war. Sokolov sitzt seitdem in Berlin in Untersuchungshaft, wo er sich Berichten zufolge mustergültig verhält. 

Der Verdacht, dass Sokolov ein von Moskau entsandter Auftragsmörder ist, kursierte schon kurz nach der Tat. Der erschossene Exil-Georgier Changoschwili hatte nicht nur in Tschetschenien aufseiten der Aufständischen gekämpft, sondern auch im Georgien-Krieg gegen die Russen gearbeitet. Er stand zudem im Verdacht, für die CIA gespitzelt zu haben. 

Doch bislang hatte sich Generalbundesanwalt Frank allen Forderungen widersetzt, den Fall zu übernehmen – er sei nur bei Fällen von Staatsterrorismus zuständig, nicht bei normalen Mordfällen.

Solange eine russische Beteiligung "nur auf Vermutungen, Hypothesen oder unbestätigten Behauptungen beruht, ist es nach unserer Rechtslage Aufgabe der Landesstaatsanwaltschaft vor Ort, das aufzuklären", sagte Frank noch im Oktober der ZEIT. "Dass es sich um einen Auftragsmord handelt, ist offenkundig. Aber die Frage ist, wer dahintersteckt."

Mittlerweile hat sich Franks Betrachtung offenbar geändert. Vergangene Woche schickte die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungsakten nach Karlsruhe. Nach Informationen der ZEIT sind deutsche Ermittler inzwischen auf eine mögliche echte Identität des Mörders gestoßen; danach könnte es sich um einen Russen handeln, der bereits in einem früheren Mordfall als Attentäter verdächtigt wurde. 

Die mögliche neue Identität ist kein zwingender Beweis, fügt sich aber zu bisherigen Ermittlungsdetails. Nach Recherchen des Spiegels, der britischen Rechercheplattform Bellingcat sowie des russischen Nachrichtenportals The Insider war in russischen Datenbanken in der Vergangenheit kein Pass mit den Personalien eines Vadim Sokolov gespeichert; der Reisepass sei zudem von einer Abteilung des russischen Innenministeriums ausgestellt worden, die auch Reisedokumente für Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU ausgehändigt hatte. Unter der angeblichen Meldeadresse in St. Petersburg ist ein Vadim Sokolov ebenfalls nicht bekannt.

Und in der russischen Steuerdatenbank sei ein Mann dieses Namens erst am 16. Juni 2019 eingetragen worden, obwohl Sokolov damals offiziell bereits 49 Jahre alt gewesen sein müsste. Haben die russischen Behörden also im Sommer eine Tarnidentität erfunden, zur Vorbereitung auf die Operation in Berlin?

Dazu würde passen, dass zwei russische Diplomaten den mutmaßlichen Mörder direkt nach der Festnahme im Gefängnis besuchten. Nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen ist dies zwar erlaubt, gilt aber so kurz nach einem normalen Verbrechen als ungewöhnlich.

BND und BfV haben Fragen an Moskau

Auch die Spur der Tatwaffe weist nach Osteuropa. Die Pistole des österreichischen Herstellers Glock, mit der der Exil-Georgier erschossen wurde, ist nach Recherchen der ZEIT 1986 von Österreich aus nach Estland verkauft worden, seinerzeit eine Teilrepublik der damaligen Sowjetunion. Später wurde der Lauf der Waffe ausgetauscht, womöglich, um Spuren zu verwischen. Ein anderer Lauf hinterlässt auf den Projektilen andere Muster, eine Zuordnung der Waffe zu eventuellen früheren Taten wird dadurch unmöglich.

 

Vor einigen Wochen hatten sich das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und der Bundenachrichtendienst (BND) an die russischen Behörden gewandt – die aber den Wunsch der Deutschen ablehnten, sich vor Ort in St. Petersburg nach dem mutmaßlichen Mörder erkundigen zu dürfen. In Berlin wurde dies als Zeichen gewertet, dass die Russen etwas zu verschleiern haben.

Mittlerweile haben die deutschen Geheimdienste die Gangart geändert. BfV und BND haben eine weitere Anfrage zu den neuen Spuren und dem möglichen Klarnamen des Mordverdächtigen gestellt. Sollte es darauf keine zufriedenstellende Antwort geben, dürften Konsequenzen unausweichlich sein.

 

 

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