Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Merkel: "Die Deutsche Einheit ist bis heute nicht vollendet, sie sei ein ständiger Auftrag aller Deutschen"

Freitag 04.Oktober.2019 - 02:38
Die Referenz
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Berlin (Welt) - Das Echo von Festreden ist oft nur von kurzer Dauer. Angela Merkel hat es gerade erlebt. Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, sprach sie über den Wert des Kompromisses als eines der wirklich wichtigen politischen Elemente des geeinten Deutschlands, ja einer Welt, „in der kein Land allein die Herausforderungen der Zukunft bewältigen kann, in der wir mehr denn je multilateral statt unilateral denken und handeln müssen, global statt national, weltoffen statt isolationistisch, gemeinsam statt allein.“ Es war ein langer Gedankengang, der dann folgte – und wenig Widerhall finden sollte.

Merkel sagte: „Wir können die Zukunft nur gut gestalten, wenn wir uns auch über unsere Ängste und Sorgen nur mit Respekt voreinander austauschen, wenn wir vor Augen haben, was jeder von uns mit seinen Erfahrungen beitragen kann, wenn wir um Lösungen konstruktiv ringen – und das heißt, wenn wir bereit sind, uns auf Kompromisse einzulassen.“

Denn es sei falsch, „im Kompromiss nur etwas Faules zu sehen, ihn gar als Verrat am eigentlich Richtigen zu schmähen.  Im Kompromiss vergewissern wir uns, was wir gemeinsam haben und worauf wir aufbauen können. Ohne Kompromiss gibt es keine Gemeinsamkeit. Und genau darum geht es heute. Um Gemeinsamkeit, um Einigkeit und Recht und Freiheit in unserem Land.“

Mut „das Richtige zu tun und nicht das Bequeme“
So hatte sie sich auch bereits bei der Verleihung eines Ehrendoktors in Leipzig Ende August geäußert. Da hatte sie gesagt: „Der Raum für Kompromissfindung ist heute oft nicht mehr leicht zu finden. Man muss ihn sich häufig erst erarbeiten, weil die Ambiguität, wie man heute so schön sagt, nicht allzu sehr geschätzt wird. Man möchte sozusagen glasklare Positionen.“

Aber es müsse „immer wieder gelingen, die vielen verschiedenen Meinungen in einem Raum der Kompromisse zusammenzuführen. Deshalb würde ich neben das Wort ,Verachtet mir die Meister nicht!‘ von Richard Wagner das Wort setzen: Verachtet mir den Kompromiss nicht! Ohne Kompromiss kann die Gesellschaft nicht zusammenhalten.“

Bei der Vorstellung des Klimapaktes hatte Merkel am 20. September betont: „Nun werden Sie fragen, was wir jetzt die vielen Stunden und schon die vielen Stunden vorher getan haben. Ich darf Ihnen sagen, dass das ein Beispiel für das ist, was Politik ist. Das unterscheidet Politik von Wissenschaft und auch von ungeduldigen jungen Menschen. Politik ist das, was möglich ist.“

Und nun, am 3. Oktober in Kiel, Merkel hat sich kaum gesetzt, kommt die Slam-Poetin Mona Harry zu Wort, Kunst- und Philosophiestudentin, Generation „Fridays for Future“. Und sagt: Im Buch der Geschichte, gemeint war die friedliche Revolution von 1989, stehen Geschichten „von Mut und von Widerstand“. Von Menschen, „die den Mut besaßen, sich aufzulehnen und das Richtige zu tun und nicht das Bequeme.“ Und diese Geschichte gehe weiter.

Die Politik brauche bei der Klimapolitik endlich Mut, „das Richtige zu tun und nicht das Bequeme“. Keine Kompromisse beim Klima eingehen – so kann das verstanden werden, so hallt es in der Sparkassen-Arena in Kiel Angela Merkel und der versammelten politischen Prominenz in den Ohren.

Versuchung, Verantwortung bei anderen abzuladen
Politik ist das, was möglich ist. Manchmal ist vieles möglich, wie 1989. Es geht doch, wenn alle aufstehen und auf die Straße gehen und endlich diese elenden Kompromisse hinter sich lassen!

Schon Axel Springer hatte mit Blick auf die Mauer einen tiefen Widerwillen gegen den Satz von den „Realitäten“, die man berücksichtigen müsse. Heute sehen Rechtspopulisten und Ökopopulisten unterschiedliche imaginäre Mauern. Merkel sieht im neuen Rigorismus spürbar immer auch eine Versuchung, eigene Verantwortung bei anderen abzuladen. Heute suchten manche die Schuld bei sogenannten Eliten.

Die Mühe, einen tragbaren, zukunftsfähigen demokratischen Kompromiss zu finden, gehört zum Leben, gerade dann, wenn alarmierende Nachrichten das Denken und Fühlen bestimmen – so lässt sich Merkels Denken interpretieren. „Wenn gefühlte Wahrheiten die Oberhand über Fakten bekommen, wird das zum Schaden aller sein.“ Besonders, wenn dann jemand die Hände in den Schoß legt, indem er suggeriert, man sei ja selber gegen die Zeitläufte machtlos.

Es ist ein schwieriger Spagat für Merkel. Einerseits Greta Thunberg zu würdigen, die Ikone der Kompromissunwilligkeit, die Hunderttausende Menschen auf die Straße bringt, andererseits sich gegen Rechtspopulisten abzugrenzen, die sagen, man müsse die Revolution von 1989 jetzt einfach mal vollenden, es gehe doch vieles, wenn man nur entschlossen sei – das ist kein leichtes Unterfangen.

Demokratie darf sich selbst nicht infrage stellen
„Ja zu freier Diskussion, Ja zu harten Forderungen an die Politik und im Geiste der sozialen Marktwirtschaft auch an Wirtschaft und Gewerkschaften“, sagte Merkel in Kiel. „Nein zu Intoleranz, Ausgrenzung, Antisemitismus, Leben auf Kosten der Schwachen und Minderheiten.“ Ein klangvoller Satz mit inhaltlichen Unschärfen.

Wo die Grenze zur Intoleranz und Ausgrenzung zu ziehen wäre, wenn Rechtspopulisten gegen Muslime Front machen oder Islamisten gegen Christen, ist etwas leichter zu definieren als die Frage, wo diese Grenze verläuft, wenn Ökopopulisten der demokratischen Politik die Fähigkeit zur ökologisch sinnvollen Gestaltungskraft pauschal absprechen. Solche Gedankenansätze gibt es ja auch.

Die Demokratie darf über den Sorgen und Ängsten und Problemen aber den Mut nicht verlieren, sie darf sich nicht selber infrage stellen, sie braucht den unermüdlichen Willen zu immer neuen Kompromissen, beschwor Merkel in ihrer Rede in Kiel und auch schon in vielen anderen Reden zuvor. Zum Beispiel in Erfurt am 27. September beim Festakt zum 30-jährigen Bestehen der CDU-Landtagsfraktion.

Wenn man den heutigen Kindern erzähle, sagte die Bundeskanzlerin damals in Thüringens Landeshauptstadt, „dass wir zwar vieles geschafft haben, dass es in den 90er-Jahren ganz großartig war, aber dass wir irgendwann zwischen 2015 und 2020 die Puste verloren haben und nicht mehr den Mut hatten, weiterzumachen“, dann werde man sich „an dieser Generation versündigen“.

Niemand könne sich darauf berufen, „dass der Staat hier und dort nicht perfekt funktioniert hat und dass deshalb das eigene Leben nicht gelungen ist und nicht gelebt werden kann und das der Kinder und Enkel auch nicht.“

Reden zum 3. Oktober werden Reden über die Gegenwart
In Kiel sagte Merkel am Donnerstag, dass es manchmal bequem sei, die Ursache eigener Fehler, eigener Unzulänglichkeiten bei den Umständen, beim Staat, bei der Politik zu suchen. Sie habe sich dabei auch schon ertappt, sagte Merkel und meinte erkennbar ihre Lebenszeit in der DDR vor 1989. Wer den Staat aber heute gegen die persönliche Freiheit in Stellung bringe, „handelt den Grundprinzipien der Demokratie zuwider“.

30 Jahre Mauerfall, das ist so lange her wie 1975 der Zweite Weltkrieg. Wer unter 30 Jahre alt war, hatte keine Erinnerung mehr an ihn. Es gab welche, die als Kleinkinder noch Luftangriffe erlebten oder die Flucht, selbst das aber ist heute anders.

Das Ende der DDR war friedlich, für Kleinkinder gab es kaum einschneidende Eindrücke. Selbst Merkels Satz, für die ehemaligen DDR-Bürger sei „auf die Last der Teilung die Wucht der Einheit“ gefolgt, ist kaum vergleichbar mit der Wucht der Besatzung und der Hungerzeit nach 1945.

Heute haben deshalb etliche derer, die unter 40 Jahre alt sind, an den Mauerfall kaum mehr einschneidende Erinnerungen, von den Einwanderern seit 1989 ganz zu schweigen. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung lebt in einem Deutschland, dessen Mauerdasein ferne Geschichte ist. Reden zum 3. Oktober werden Reden über die Gegenwart. Angela Merkel lieferte dafür gerade das aktuellste Beispiel.

„Setzte sich ein solches Denken durch, führte das ins Elend“, sagte die Kanzlerin in Kiel. Freiheit sei Verantwortung, die eigenen Grenzen zu erleben, ohne dann die Schuld bei anderen abzuladen. „Die Mühe der Freiheit ist gleichsam die Kehrseite der Mündigkeit, und sie ist der Kern der Demokratie.“

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