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Entscheidung der Kanzlerin: ZDF-Dokudrama über „Merkel und die Flüchtlinge im 2015“

Mittwoch 04.September.2019 - 03:15
Die Referenz
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Berlin (Focus) - Am Ende eines langen Tages verliert Angela Merkel kurz die Fassung. „Scheiße, verdammt noch mal! 100 Busse?“, flucht sie ins Telefon. Merkel ist gerade wieder in Berlin-Tegel gelandet, den ganzen Tag über nahm sie Termine in Bayern und NRW wahr.

Für das dringendste Thema dieses 4. Septembers 2015 blieb da nur wenig Zeit: Hunderte, vielleicht sogar Tausende Flüchtlinge machen sich gerade zu Fuß von Ungarn aus auf dem Weg nach Deutschland. Ob der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban den Menschenstrom gewähren lässt oder ihn mit Gewalt am Weiterziehen hindert, das konnte zunächst keiner einschätzen. Als Orban die verzweifelten Menschen dann mit Bussen an die Grenze nach Österreich karren lässt, geht es um eine andere Frage: Nehmen wir sie auf? Und wenn ja: Wie bekommen wir die alle unter?

Schicksals-Entscheidung im Alleingang

Es ist diese Gemengelage, die der ZDF-Film „Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge“ (Mittwoch, 20:15 Uhr) aufgreift, genau vier Jahre nach jenem schicksalhaften Tag. Der Film zeichnet nach, wie es zu Merkels Entscheidung kam, die Grenze nicht zu schließen und die Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Er zeigt auch, wie Merkel diese außerordentliche Entscheidung im Endeffekt im Alleingang treffen musste. 

Der Clou an dem Film ist, dass er Realität mit Fiktion vermischt. Zwar spricht das Dokudrama mit vielen Beteiligten wie dem damaligen Innenminister Thomas de Maizière (CDU) oder dem Journalisten Martin Kaul, der in Ungarn vor Ort war. Und Filmaufnahmen von jenem 4. September zeigen die Kanzlerin bei ihren Besuchen an der Technischen Universität München und dem Festakt zum 70. Geburtstag der CDU in Nordrhein-Westfalen. Doch wenn sich Merkel mit ihren Mitarbeitern im Kanzleramt zur Morgenbesprechung trifft oder wenn sie spätabends noch mit ihrer engsten Vertrauten Beate Baumann telefoniert, tritt Schauspielerin Heike Reichenwallner an ihre Stelle.

„Ist mir inzwischen aber auch egal“
Einen Blick hinter die Kulissen will „Stunden der Entscheidung“ damit ermöglichen. Die gestellten Szenen sind handwerklich gut gemacht, die Schauspieler haben ihre Vorlagen genau studiert. Aber wie nahe die inszenierten Szenen an der Realität sind, bleibt unklar. „Ist mir inzwischen aber auch egal, muss er halt mit der Entscheidung leben“, sagt Reichenwallner alias Merkel an einer Stelle über Horst Seehofer, der an jenem Abend nicht ans Telefon geht. Ob Merkel das wirklich so gesagt hat, erfährt der Zuschauer nicht.

Selbst in Szenen, in denen Merkel zwischen zwei Terminen herzhaft in eine Leberkässemmel beißt oder sich über die lauten Müllmänner vor ihrer Wohnung beschwert, ist unklar, was der Fantasie eines Autors entspringt und was auf der Realität fußt. Und so dient die dramatische Darstellung einer übermüdeten Merkel am Telefon eher der Befriedigung eines voyeuristischen Bedürfnisses als einem tatsächlichen Erkenntnisgewinn.

„Das ist absolut authentisch“

„Dass die Morgenrunde damit beginnt, dass Frau Baumann die Kanzlerin fragt 'Käffchen?', das ist absolut authentisch“, versichert Marc Brost gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Der langjährige Politik-Redakteur ist einer von zwei Drehbuchautoren und hat nach eigenen Angaben viele, oft vertrauliche Gespräche mit Beteiligten geführt.

„Wenn es Dialoge sind oder Telefongespräche, dann geht es nur noch darum, was gesprochen wurde – da können Sie nicht den genauen Wortlaut rekonstruieren“, sagt er. „Für uns ging es darum, dass wir exakt sind, was den Inhalt angeht, exakt, was den Zeitpunkt angeht und exakt, was die Form angeht. Also: aggressiv oder passiv, wütend oder ruhig.“

Gesicht von Not und Misstrauen

Noch deutlicher wird die Problematik bei der zweiten Hauptfigur des Films, dem Syrer Mohammad Zatareih, der den Flüchtlingsmarsch vom Budapester Ostbahnhof organisiert. Er gibt den Männern, Frauen und Kindern, die sich in jenen Tagen auf den Weg machen, ein Gesicht – ihrer Not, ihrem Misstrauen gegenüber den ungarischen Polizisten, ihrer Hoffnung auf Deutschland.

Der wahre Zatareih spricht in Interview-Sequenzen, in szenischen Passagen übernimmt wieder ein Schauspieler. Gerade bei den Massenaufnahmen aus Ungarn wird allerdings oft unklar, wann authentisches Filmmaterial in Fiktion übergeht.

Der Merkel-Gegner, der nicht ans Telefon geht
Viel Überraschendes enthüllt der Film daher nicht – auch weil er sich den beiden mysteriösesten Figuren dieses Abends nicht nähert. Die Motivation des ungarischen Ministerpräsidenten Orban, die sich im Lauf dieses Tages offenbar mehrmals geändert hatte, ist weiterhin nicht zu durchschauen. Orban taucht in dem Film nur in Erwähnungen auf, zu Wort kommt die ungarische Seite nicht.

Und auch die Frage nach Horst Seehofer, der später zum größten Gegenspieler Merkels in der Flüchtlingsfrage aufstieg, aber an jenem Abend nicht zu erreichen war, bleibt unklar. „Das gibt es mal in der Politik, dass man glaubt, wenn man nicht ans Telefon geht, ist man nicht Teil der Folgen einer Entscheidung“, mutmaßt de Maiziére. Die drängendsten Fragen zu jenem 4. September 2015 kann „Tag der Entscheidung“ am Ende nur so beantworten: mit Mutmaßungen.
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