Herausgegeben vom CEMO Centre - Paris
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Merkels Theorie erfolgreich in Sachsen: Kretschmers Sieg lässt auch CDU-Kritiker verstummen

Montag 02.September.2019 - 08:17
Die Referenz
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Berlin (Focus) - Und plötzlich passen auch Mimik und Botschaft zusammen. „Das freundliche Sachsen hat gewonnen“, ruft Michael Kretschmer am Wahlabend in die Menge. Er lächelt locker, schaut Journalisten an, schaut Parteifreunde an. In den letzten Wochen des Wahlkampfs sah der Mann zum Teil aus, als könne er vor Erschöpfung jede Sekunde zusammenbrechen. Ernster Blick, rötliche Gesichtsfarbe, angespannte Haltung. Um den Mann konnte man sich richtig Sorgen machen.

Kretschmer wird der Verlierer der Sachsen-Wahl sein, er muss sich seine sichere Niederlage nur noch abholen – so die weit verbreitete Sicht. Im Frühsommer sahen ihn Demoskopen bei magersten 24 Prozent. Er hielt dagegen, und hat es den Zweiflern gezeigt. 32,1 Prozent wurde es am Ende. Klar ist auch: Es war kein fulminanter Sieg, schließlich landete die CDU deutlich unter ihren Wahlergebnissen der Vergangenheit.

Konservativ und Union – da geht wieder was

Viele sahen in Kretschmer lange den Wackelkandidaten der Macht. Einen, der erstmal beweisen muss, was er kann. Einen, der nicht stark genug ist für das harte Geschäft. Seit gestern Abend nun ist er ein großer Hoffnungsträger der CDU, der Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer fürs erste vor ungemütlichen Debatten bewahren könnte. Konservativ und Union – da geht wieder was.

Lange galt der 44-Jährige als eine Art Ministerpräsident auf Widerruf. Einer, der die Macht in Sachsen nur von seinem Vorgänger Stanislaw Tillich geerbt, aber nicht durch Wahlen verdient hatte. Einer, der irgendwie nach oben gekommen war, aber sich wohl kaum an der Spitze halten würde. So sahen es viele in seiner Partei. Tillich hatte die Pegida-Wutbürger samt AfD nie in den Griff bekommen. Warum sollte ausgerechnet sein Zögling, der nette Kretschmer, das schaffen – und das auch noch in einer CDU, in der einzelne mit einer Zusammenarbeit mit der AfD liebäugeln?

Jedem Sachsen die Hand gedrückt

Kretschmer vertraute auf sich selbst. Er wollte es auf seine Tour schaffen. Seine Verbissenheit wirkte phasenweise fast beängstigend. Er aber hat es den Zweiflern gezeigt – mit Kampf und klarer Kante.

Der Mann legte über Monate ein Pensum hin, das viele nicht einmal eine Woche durchstehen würden. Er sprach mit allen. Auch mit denen, die gemeinhin als „die ‚Abgedrifteten“ gelten. Kretschmer ließ sich auch nicht irritieren durch Witze, er wolle wohl jedem Sachsen die Hand geben und sei inzwischen schon bei der zweiten Hand jedes Sachsen angelangt. Er kämpfte weiter und weiter und weiter.

Wende kam mit klarer Kante gegen die AfD

Bei den Werten für persönliches Ansehen taxiert ihn die Forschungsgruppe Wahlen auf hervorragende 2,3 Punkte (auf einer Skala von plus 5 bis minus 5). Etwa jeder Dritte hat nur seinetwegen CDU gewählt. Es gab ihn also, den Kretschmer-Effekt.

Die Wende im Wahlkampf kam, als er sich traute. Klare Kante gegen die AfD („Von der AfD kommt eine Tonlage, die wir bisher nur von der NPD kannten“), deutliche Abgrenzung von Ex-Verfassungschutzchef Hans-Georg Maaßen („Dieser Mann und sein undifferenziertes Gerede haben die Debatte über die rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz unnötig verlängert“ ), Kretschmer präsentierte sich als echter Führungsmann.

Eine Theorie bekommt ein Gesicht

Wie oft hat Angela Merkel in den letzten Jahren geklagt, sie hätte ja selbst gern wieder „einen Alfred Dregger“ für die CDU. Ein echtes konservatives Aushängeschild. Dass der Name Alfred Dregger Menschen unter 40 in der Regel rein gar nichts mehr sagt, zeigt schon, wo das Problem ist. Fast 28 Jahre ist es her, dass er als Fraktionschef im Bundestag ausschied. Die große konservative Lücke in der CDU ist seit Jahren Dauerzustand, Kramp-Karrenbauer hat sie von Merkel geerbt.

So ist ein mutiger Kretschmer eine Riesenchance für die CDU, weil er sozusagen der lebende Beweis ist, dass Union und konservativ eben doch zusammengeht, ohne dass der Weg gleich schnurstracks an den rechten Rand führt. Eine Theorie bekommt ein Gesicht.

Kretschmer wirkte plötzlich härter

Bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren verlor Kretschmer seinen Wahlkreis. Und dass in Sachsen damals die AfD erstmal vor der CDU lag, wurde auch ihm, dem damaligen Generalsekretär, angelastet.

Kretschmer veränderte sich in dieser Zeit. Der Mann, der mit seiner Partnerin – einer Journalistin – zwei gemeinsame Söhne hat, und sich meist ausgesprochen freundlich gab, wurde härter. In Berlin, in seiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär der Bildungsministerin, war Kretschmer sehr zugänglich. Plötzlich wirkte er oft verschlossen. Unversöhnlich.

Kretschmers offene Rechnung mit der AfD

Mit den Rechtspopulisten hatte Kretschmer also eine Rechnung offen. Die Rechnung hat er nun beglichen, indem er die AfD klar auf Rang zwei verweisen konnte. Sein Ergebnis ist nicht strahlend. Gemessen an der politischen Gemengelage der letzten Monate aber richtig gut.

Kretschmer wird in der CDU Anno 2019 und folgende eine Schlüsselrolle zufallen. Wenn Kramp-Karrenbauer die Partei breit in der Mitte aufstellen will, braucht sie Leute wie ihn. Der 44-Jährige hat in den letzten Monaten erfahren, dass es sich auszahlen kann, offen eine eigene Meinung zu vertreten. Mit seinem Kampf um eine engere Zusammenarbeit mit Russland hat er sich weit vorgewagt und in der CDU viele verärgert. Der Preis für mehr Breite der Partei aber sind härtere Debatten.

Arbeitsprobe Klimaschutz

Die nächste Kretschmer-Arbeitsprobe ist schon in Sicht. In der bevorstehenden Abschlussrunde für die Klimastrategie wird er sich wohl auch kaum dezent im Hintergrund halten. Er fürchtet – da ist er ganz der konservative CDU-Politiker, der er sein will – übermäßige Belastungen für die Wirtschaft. Vom Helden von Sachsen wird man künftig auch in Berlin mehr hören. Bequem wird das nicht für die Parteichefin. Aber dass Kretschmer bequem ist, erwarten sie auch nicht von ihm. Nicht mehr.

Auch für ihn selbst werden die nächsten Monate alles anders als bequem. Denn wenn er ein Bündnis mit SPD und Grünen schmieden muss, ist das in Sachsen eine echte Herausforderung: Schwarz und Grün – da passt wenig zusammen. Vielleicht kann er ja vor der neuen Kampf-Runde einmal ausschlafen.
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