Brexit: Johnson hat das Parlament vorerst stillgelegt und erntet Wut der Demonstranten
London (Spiegel) - Zwei Monate vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens hat Premierminister Boris Johnson dem Parlament in London eine Zwangspause verordnet. Viele Parlamentarier reagierten erzürnt. Und auch viele Bürger wollen sich diesen, in ihren Augen undemokratischen Schritt nicht gefallen lassen.
Königin Elizabeth II. stimmte am Mittwoch einem Antrag Johnsons zu, die traditionelle Parlamentspause bis zum 14. Oktober zu verlängern. Die Entscheidung gibt den Abgeordneten deutlich weniger Zeit als von ihnen gewünscht, um einen ungeregelten Brexit zu verhindern. Einen solchen hält Johnson für möglich. Kritiker sagen, er treibe ihn aktiv voran.
Der Zorn über die Zwangspause für das Parlament wächst. Eine Onlinepetition gegen die umstrittene Maßnahme wurde binnen weniger Stunden von mehr als einer Million Menschen unterzeichnet.
Für das Wochenende sind neue Demos angesagt
In mehreren Städten gingen am Mittwochabend Tausende Menschen auf die Straßen. In London versammelten sich Demonstranten nahe dem Parlament und Johnsons Amtssitz in der Downing Street. Sie forderten ein Ende des "Putsches" und schwenkten Europafahnen. Auch aus vielen anderen Städten Großbritanniens, darunter Manchester, Edinburgh, Cardiff, Birmingham und Liverpool, wurden friedliche Proteste gemeldet. Für das Wochenende haben die Organisatoren bereits weitere, noch größere Demonstrationen angekündigt.
Auch die Reaktionen der politischen Gegner sind mehr als deutlich. Parlamentspräsident John Bercow, der über die geplante Zwangspause für das Parlament nicht vorab informiert war, bezeichnete die verlängerte Sitzungspause als "Verfassungsfrevel". Es sei offensichtlich, dass die Regierung das Parlament daran hindern wolle, über den Brexit zu debattieren und bei der Weichenstellung für das Land seine "Pflicht zu tun".
Labour-Chef Jeremy Corbyn nannte die Zwangspause einen "Skandal" und warf Johnson vor, die Demokratie zu zerschlagen, um "einen No-Deal-Brexit zu erzwingen". Corbyn hatte für kommende Woche ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister angekündigt. Die liberaldemokratische Abgeordnete Sarah Wollaston beschuldigte Johnson, sich "wie ein unbedeutender Diktator" zu verhalten. In hektischen Konferenzschaltungen versuchten Tory-Abgeordnete und die Oppositionsparteien am Mittwoch möglichst schnell eine "Rebellenallianz" zu schmieden, wie mehrere britische Medien berichten.
Johnson will gar keinen Grund für all die Aufregung erkennen können
Gegen Pläne für eine erzwungene längere Parlamentspause hatte sich bereits am Dienstag Widerstand formiert. Rund 160 Abgeordnete unterzeichneten eine Erklärung, in der sie Johnson vor der Umgehung des Unterhauses warnten. Ein solcher Schritt würde eine "historische Verfassungskrise" auslösen, warnten sie.
Johnson ließ sich von diesem Vorabprotest offenbar kaum beeindrucken - und verkündete ungerührt am Mittwoch seinen Plan. Er selbst wies den Vorwurf, das Parlament auszuhebeln, als "völlig unwahr" zurück. Ein Regierungsvertreter betonte, durch die längere Parlamentspause gingen lediglich vier Sitzungstage verloren.
Schließlich erwägen zahlreiche Johnson-Gegner auch noch rechtliche Schritte gegen den Plan des Premiers. So zählt etwa der frühere Premier John Major zu jenen Kritikern, die sich juristische Beratung suchen wollen. Die Aussichten sind jedoch ungewiss. Das Parlament selbst kann seine Zwangspause nicht verhindern.