Deutschland holt erstmals IS-Kinder aus Syrien zurück
Montag 19.August.2019 - 10:06
Berlin (Welt) - Am syrisch-irakischen Grenzübergang Semalka hat in den vergangenen Jahren für viele Menschen ein neues Leben begonnen. Jesiden aus Sindschar flohen 2014 vor den Einheiten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) über die Hunderte Meter lange Pontonbrücke nach Nordsyrien.
Im Anschluss sollte den Kindern und ihrer aus Niedersachsen stammenden Mutter die Rückreise nach Deutschland ermöglicht werden. Im Urteil verwies der Richter auf die im Grundgesetz verankerte „staatliche Schutzpflicht“.
Zuletzt rollten Soldaten und Helfer aus aller Welt in Wagenkolonnen über den Abschnitt am Fluss Tigris. Am Montagmorgen fand an dem Grenzübergang nun eine lange vorbereitete Rückführungsaktion statt. Mittendrin: Vertreter der Bundesregierung.
Kurden der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien haben Mitarbeitern des Generalkonsulats in Erbil erstmals deutsche Kinder aus syrischen Lagern übergeben. Das bestätigte das Auswärtige Amt. Es handelt sich dabei insgesamt um vier Kinder: drei Waisenkinder zwischen zwei und sieben Jahre alt, deren Eltern sich dem IS angeschlossen hatten und im Krieg starben; zudem ein schwerkrankes Kleinkind, das laut WELT-Informationen ein halbes Jahr alt ist und unter einem Gehirntumor leidet.
Die Kinder wurden an der irakisch-syrischen Grenze in Empfang genommen. Die Kinder sollen den Angaben zufolge nun an Angehörige übergeben werden und dann nach Deutschland ausreisen.
Was die Regierung über die IS-Witwe weiß – und was sie geheim hält
Die Aktion wurde mit Unterstützung von Hilfsorganisationen über Wochen vorbereitet. Rund 160 Kilometer trennen das größte Camp al-Hol, in dem auch viele deutsche IS-Familien leben, vom Grenzübergang Semalka. Deutsche Beamte sollen bei der Übergabe am Montag kurzzeitig auch syrischen Boden betreten haben. Darauf hatten die Kurden – als symbolisches Zeichen – immer wieder gepocht.
Ein Sprecher der kurdischen Selbstverwaltung hatte WELT bereits am Wochenende telefonisch den Rückführungsplan bestätigt. Entsprechende Gerüchte verbreiteten sich über Twitter.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten hat Deutschland bei der Rücknahme von IS-Kämpfern und ihren Familien bislang gebremst. Gerichtsurteile erhöhten jedoch zuletzt den Handlungsdruck auf die Bundesregierung.
Außenminister Heiko Maas (SPD) kündigte am Montag an, weitere Kinder von IS-Kämpfern nach Deutschland zurückholen zu wollen. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass auch weitere Kinder Syrien verlassen können“, sagte Maas. Schließlich könnten die Kinder nicht für die Taten ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden.
Berliner Richter verweist auf „staatliche Schutzpflicht“
Über 100 deutsche Kinder befinden sich derzeit in syrischen Lagern. Laut einem Bericht der „New York Times“ soll die Bundesregierung zuvor bereits 15 Kinder von IS-Eltern aus dem Irak nach Deutschland zurückgeführt haben.
Anfang Juli hatte das Verwaltungsgericht Berlin per Beschluss im Eilverfahren das Auswärtige Amt aufgefordert, rasch die Identität von drei minderjährigen Kindern im syrischen Flüchtlingslager al-Hol feststellen zu lassen.
Bereits Ende Mai hatte WELT über Pläne der Bundesregierung berichtet, „besonders schutzwürdige“ Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft aus syrischen Lagern zurückzuholen. Doch die Planung zog sich hin. Ein Grund: Mit dem syrischen Regime um Präsident Baschar al-Assad gibt es offiziell keine Gesprächsebene.
Aktuell registrieren Bundesbehörden rund 120 IS-Haftfälle mit Deutschlandbezug im Ausland. Rund 70 Prozent von ihnen sind deutsche Staatsbürger, davon 31 sogenannte Doppelstaatler. Die Mehrheit, knapp 80 Personen, befindet sich in Syrien. Nur 23 Personen – jeder fünfte Fall etwa – sind als Gefährder eingestuft; darunter sieben Frauen.
Die deutsche Botschaft in Damaskus ist noch immer geschlossen. Die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien wiederum, die den IS besiegte und nun Tausende Islamisten aus aller Welt in ihren Gebieten versorgen muss, wird von der Bundesregierung völkerrechtlich nicht anerkannt – auch aus Sorge vor dem Groll der türkischen Regierung, von der sich wiederum die Kurden in ihrer Existenz bedroht fühlen.
Innerhalb der Bundesregierung werden junge Waisenkinder bereits seit Monaten als das geringste Sicherheitsrisiko angesehen: Sie haben nicht gekämpft, und es besteht die große Hoffnung, dass sie fernab einer islamistisch geprägten Familie keine Radikalisierungskarriere einschlagen.
Ansonsten aber ist man vorsichtig mit der Prognose: In der Bundesregierung ist man längst von dem Gedanken abgerückt, nur männliche Kämpfer als potenzielle Gefährder zu betrachten. Erste Prozesse gegen Frauen hierzulande zeigen, dass auch sie mitunter an Gräueltaten beteiligt waren oder bewaffnet durch die Gassen des Kalifats zogen.
Aber auch viele IS-Kinder, die einzigen und wahren Opfer, können in der Sicherheitsdebatte nicht außer Acht gelassen werden. Sie wuchsen inmitten von Gewalt und Hass auf, lernten teilweise den Umgang mit Waffen, verehren ihre kämpfenden Väter. Deshalb bleiben im Grunde nur die Kleinkinder, die man bedenkenlos zurückholen könnte – so wie bei der Rückführung jetzt.
Hilfsorganisationen und Angehörige deutscher Islamisten hatten immer wieder an die Bundesregierung appelliert, endlich zu handeln. Tatsächlich hat sich die Situation in den überfüllten Lagern, in denen Vertriebene und IS-Familien untergebracht sind, in den vergangenen Monaten zugespitzt.
Allein im Al-Hol-Camp, im Nordosten Syriens, leben laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen mittlerweile knapp 75.000 Menschen. Viele Kinder im Camp sind laut Berichten mangelernährt. Es fehlt an Wasser, Sanitäranlagen und Medizin. Syriens Glutsommer soll in den Lagern auch zu ersten Toten geführt haben.
Insgesamt sind nach offiziellen Angaben rund 1050 Männer und Frauen seit 2013 aus Deutschland in syrische oder irakische Kriegsgebiete ausgereist. Jeder Dritte von ihnen kehrte bereits zurück. Wohl jeder Fünfte kam ums Leben.