Baldiger Abschied von Merkel: engste Vertrauten an zentralen Machtpositionen postiert
Sonntag 28.Juli.2019 - 04:32
Berlin (Focus) - Strahlender als Ursula von der Leyen hat wohl noch niemand auf seine Entlassung reagiert. Mit sichtlicher Freude ließ sich die künftige Präsidentin der EU-Kommission am Mittwoch vor einer Woche im Schloss Bellevue in Berlin ihre Entlassungsurkunde als Verteidigungsministerin aushändigen. Die 60-Jährige freut sich nicht nur auf ihre historische neue Aufgabe in Brüssel als erste Frau an der Spitze Europas. Sie ist nach zahlreichen Pannen und Ungereimtheiten in Berlin auch froh, das schwierige Ministeramt mit seinen zahlreichen Fallstricken halbwegs unbeschadet verlassen zu können.
Deutlich weniger Euphorie zeigte ihre Nachfolgerin. Mit schmalem Lächeln nahm Annegret Kramp-Karrenbauer aus der Hand von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller ihre schmucklose Ernennungsurkunde entgegen. Als hätte es die CDU-Vorsitzende in den vergangenen Wochen nicht schon schwer genug gehabt, muss sie als neue Verteidigungsministerin jetzt auch noch eine zusätzliche Last schultern. „Ich wünsche dir eine glückliche Hand“, gratulierte Angela Merkel ihrer Favoritin nach der offiziellen Ernennung mit vielsagendem Lächeln.
Merkel hat engste Vertraute an zentralen Schaltstellen postiert
Für die Bundeskanzlerin war dieser Mittwoch ein perfekter Tag. Sie konnte im Kreis renommierter Wissenschaftler nicht nur ihren 65. Geburtstag feiern, sondern sich auch über ihren unerwarteten Sieg im fast schon aussichtslosen Kampf um die Vorherrschaft in Brüssel und Berlin freuen. Mit von der Leyen und Kramp-Karrenbauer hat Merkel nach langem Taktieren jetzt ihre beiden engsten Vertrauten an zwei zentrale Schaltstellen setzen können – ein glücklich gelungenes Machtmanöver.
Von der Leyen soll den Einfluss der Kanzlerin in Europa absichern und dort ihr europapolitisches Erbe bewahren. Und Kramp-Karrenbauer ist mit ihrem Einzug ins Bundeskabinett dem Ziel der Kanzlerkandidatur einen bedeutenden Schritt nähergerückt.
Merkel will Partei mit diesen Manövern an der Macht halten
Damit ist auch Merkel, an deren Fortune und Gesundheit zuletzt erhebliche Zweifel laut wurden, ihrem persönlichen Ziel einen bedeutenden Schritt näher gekommen: Die Kanzlerin will Stück für Stück die notwendigen Voraussetzungen schaffen, um eines Tages selbstbestimmt und überraschend aus dem Amt scheiden zu können – und trotzdem ihre Partei an der Macht halten.
Das hat vor ihr noch kein deutscher Regierungschef geschafft.
So könnte die Kanzlerin jetzt nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung im Falle ihres Rückzugs dem Bundespräsidenten vorschlagen, ihre Amtsgeschäfte an ein Kabinettsmitglied ihrer Wahl zu übertragen. Das wäre nach Lage der Dinge Kramp-Karrenbauer. Diese Rochade war vorher nicht möglich, weil AKK weder Amt noch Mandat besaß.
Zwar wäre Kramp-Karrenbauer in dieser Variante nur zeitweise „Kanzlerin in Vertretung“, aber bis zur Neuwahl der Regierungschefin könnte sie den Amtsbonus nutzen und als solche in den nächsten Wahlkampf ziehen. Ihre innerparteilichen Konkurrenten Friedrich Merz und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hätten es dann schwer, ihr die Position streitig zu machen.
Merkel mit dem längsten Atem im Brüsseler Posten-Poker
Dabei hatte es im europäischen Posten-Poker lange nach einer Blamage für Merkel ausgesehen. Zuerst scheiterte der deutsche EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) am Einspruch von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Dann scheiterte die Kanzlerin an ihrer eigenen Partei, als sie den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans vorschlug, um das Modell des europäischen Spitzenkandidaten zu retten.
Kaum jemand hätte es danach für möglich gehalten, dass Merkel in dieser verfahrenen Lage mit Macrons Hilfe das Blatt noch wenden und Ursula von der Leyen als erste Frau und als erste Deutsche nach 52 Jahren an der Spitze der Europäischen Kommission durchsetzen konnte. Unermüdlich hatte die Kanzlerin im Anschluss an die Nominierung ihrer Ministerin die 27 Regierungschefs in Europa abtelefoniert und um Unterstützung für von der Leyen geworben.
Am schwierigsten war es, den rechtskonservativen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki zu überzeugen. Doch nach Merkels Intervention machte der Pole bei den 25 EU-Abgeordneten seiner PiS-Partei allen Einfluss geltend. Und rettete damit den knappen Vorsprung zugunsten der Deutschen. Neun Stimmen weniger, und von der Leyen wäre durchgefallen.
Von der Leyen gab sich kämpferisch - und verspricht allen etwas
Die Erleichterung über den knappen Abstimmungssieg im EU-Parlament in Straßburg stand von der Leyen ins Gesicht geschrieben. Überglücklich legte sie beide Hände an ihr Herz, lächelnd deutete sie eine Verbeugung in Richtung der Abgeordneten an. „Ich fühle mich geehrt und bin überwältigt“, sagte sie und dankte in einer kleinen Rede auf Englisch den 383 EU-Abgeordneten, die sie gewählt hatten.
Mit Blick auf die unterlegenen Wettbewerber verkündete sie gleich zwei Personalien: Der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans und die liberale Spitzenkandidatin Margrethe Vestager aus Dänemark sollen in der neuen EU-Kommission herausgehobene Posten als Erste Vizepräsidenten erhalten – ein wichtiges Zugeständnis an diese beiden in Brüssel hoch angesehenen Europapolitiker.
Zuvor hatte von der Leyen in einer emotionalen und leidenschaftlichen Rede dafür geworben, das „gewaltige Werk“ der europäischen Einigung nicht aufs Spiel zu setzen. „Wir müssen wieder kämpfen und aufstehen für unser Europa“, forderte sie. Den Populisten und Euro-Gegnern sagte sie unmissverständlich den Kampf an. Wer Europa „schwächen, spalten oder ihm seine Werte nehmen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin“. Damit wollte sie dem Verdacht entgegenteten, mit inhaltlichen Zugeständnissen Stimmen aus dem Lager der nationalen und rechtspopulistischen Parteien einfangen zu wollen.
Verärgerung über das Nein der SPD
Für die deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament reichte das jedoch nicht. Katarina Barley, die früher als Bundesjustizministerin neben von der Leyen am Berliner Kabinettstisch gesessen hatte, führte jetzt als Europa-Abgeordnete die Front gegen die CDU-Frau an. Der Europäische Rat habe „bewusst das Parlament überfahren“, sagte Barley. „Wir können nicht zulassen, dass das Spitzenkandidatenprinzip einfach in die Tonne getreten wird.“
Dass eine Niederlage der Deutschen zur Unzeit eine Krise der europäischen Institutionen heraufbeschworen hätte, blendeten die SPD-Abgeordneten in Straßburg aus.
Am Tag darauf kündigte Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus dem sozialdemokratischen Koalitionspartner an, dieses politische Foulspiel noch mal intensiv zu diskutieren. „Das muss die SPD erst einmal erklären, da gibt es noch einigen Klärungsbedarf.“ Ein Ende der Koalition werde dadurch aber nicht provoziert, wiegelte Brinkhaus ab. „Wir müssen nach vorne schauen.“
Von der Leyens Konzepte bislang nur schemenhaft zu erkennen
Was Ursula von der Leyen künftig in Europa plant, ist bislang nur schemenhaft zu erkennen. In Briefen an die Fraktionen und in ihren Gesprächen machte sie weitreichende Zusagen. Den Grünen versprach sie, beim Klimaschutz über das hinauszugehen, was ihre Parteienfamilie EVP bislang angeboten hat.
Ihr neues Ziel lautet „Klimaneutralität“ und eine Senkung der CO2-Emissionen bis 2030 um „mindestens 50 Prozent“, vielleicht auch mehr. Das wären mindestens zehn Prozent über den bisherigen Planungen. Wie das erreicht werden soll, ließ von der Leyen offen. Das derzeitige System des Emissionshandels will sie ausweiten und einen Teil der Europäischen Investitionsbank zu einer „Klimabank“ umwandeln.
Als Goodie für die Sozialdemokraten schlug von der Leyen die Bildung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung vor. Damit soll Staaten geholfen werden, die von einem wirtschaftlichen Schock getroffen werden – ein altes Anliegen der europäischen Sozialisten. Nicht zuletzt will von der Leyen den Schengen-Raum erweitern und für eine faire Verteilung der Flüchtlinge sorgen.
Was von den vielen wolkigen Ankündigungen wirklich Eingang in ihr Arbeitsprogramm findet, wird sich ab November zeigen, wenn die neue Kommission gebildet ist und ihre Arbeit aufnimmt. Dass von der Leyen sich eng mit ihrer Förderin Merkel und Frankreichs Präsident Macron absprechen wird, zieht hinter den Berliner Kulissen keiner in Zweifel. Bei einer kleinen Feier am Dienstagabend auf der Terrasse des Straßburger „Hilton“-Hotels traf sich von der Leyen bereits mit Mitgliedern der EU-Kommission. Den Sommer werde sie in ihrer Geburtsstadt Brüssel verbringen, versprach sie nach ihrer Wahl. Sie sieht in der Führung der Kommission den Höhepunkt ihrer politischen Karriere und auch eine „späte Heimkehr“ nach Europa.
Merkel musste AKK drängen, von der Leyen zu beerben
Deutlich weniger euphorisch zeigte sich am Mittwoch in Berlin Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie weiß, dass die zusätzliche Übernahme des Verteidigungsressorts einerseits einen größeren Machtzuwachs darstellt. Andererseits ist das Amt auch ein politischer Schleudersitz, auf dem schon manche Minister ihre Karriere beenden mussten.
Als klar wurde, dass von der Leyen unabhängig vom Ausgang der Wahl im EU-Parlament ihren Platz im Berliner Bendlerblock räumen würde, begann Merkel, ihre potenzielle Nachfolgerin AKK zu bearbeiten.
„Es bedurfte einiger Mühe, um Frau Kramp-Karrenbauer zu überzeugen“, sagt ein hochrangiger CDU-Mann. Die beiden mächtigsten Frauen der CDU brauchten mehrere Gesprächsrunden, ehe AKK einwilligen und Merkels Drängen nachgeben musste.
Immer wieder hatte AKK dementiert, einen Wechsel ins Bundeskabinett zu planen. „Ich habe mich bewusst entschieden, aus einem Staatsamt in ein Parteiamt zu wechseln“, betonte die langjährige Ministerpräsidentin in zahlreichen Interviews. „Es gibt in der CDU viel zu tun.“
Das gilt ebenso für das Ministerium. Das Thema Sicherheit und Verteidigung habe „höchste Priorität“, sagte die Saarländerin nun. Also will sie „das politische Gewicht der Vorsitzenden der größten Regierungspartei in diese Arbeit einbringen“. Sie sagte: „Deswegen habe ich mich für den Eintritt ins Kabinett entschieden.“
CDU-Signal an die Truppe: Bundeswehr wird zu Chefsache
Neben ihrer Regierungsarbeit wird sie gleichwohl viel Zeit auf die Partei verwenden. Dort wird in einem aufwendigen Verfahren ein neues Grundsatzprogramm entwickelt. Auch mehr als ein halbes Jahr nach ihrem hauchdünnen Sieg gegen Friedrich Merz Ende 2018 ringt AKK in der CDU immer noch um Zustimmung und Unterstützung. Doch je mehr sie zuletzt in die Defensive geriet, desto offensichtlicher wurde auch, dass ihr als Parteivorsitzende ohne Parlamentsmandat und Regierungsamt eine eigene Bühne fehlt. Auch deshalb drängte Merkel sie, zusätzlich das Verteidigungsministerium zu übernehmen.
Sinn macht der Wechsel ins Kabinett allerdings nur, wenn AKK als Verteidigungsministerin Erfolg hat. Das aber ist angesichts der zahlreichen Probleme bei Rüstungsprojekten, der pannenanfälligen Flugbereitschaft der Bundeswehr und der horrenden Beraterkosten mehr als fraglich. Immerhin stimmt das Signal an die Truppe: Die politische Führung der Bundeswehr ist ab jetzt für die CDU „Chefsache“.
Es ist ein letzter Härtetest, den AKK nach dem Willen von Merkel bestehen muss. Auch deshalb wünschte die Kanzlerin ihr eine „glückliche Hand“.