Europawahl könnte die Groko beenden
Berlin (Spiegel) - Europa muss sich politisch nicht verstecken: 427 Millionen Wahlberechtigte - nur in Indiens Demokratie dürfen mehr Menschen ihre Stimme abgeben. Auch deshalb ist die EU mit ihren (noch) 28 Mitgliedstaaten eine Erfolgsgeschichte, die dieser Tage fortgeschrieben werden soll. Trotz aller Sorge, dass der Anti-EU-Block im neuen Parlament so stark wie nie werden könnte, trotz aller Herausforderungen für das europäische Projekt vor allem durch den Brexit.
In Deutschland sind an diesem Sonntag knapp 65 Millionen Bürger zur Wahl aufgerufen - und mit dem CSU-Politiker Manfred Weber könnte einer von ihnen sogar zum großen Sieger der Europawahl werden: Weber tritt für die konservative Parteienfamilie EVP als Spitzenkandidat an - sie hat gute Chancen, erneut stärkste Fraktion im Parlament zu werden. Die europäischen Sozialdemokraten mit ihrem Spitzenkandidaten Frans Timmermans aus den Niederlanden hoffen allerdings ebenso auf Platz eins.
96 von den 751 Abgeordneten, die Anfang Juli bei der konstituierenden Sitzung des neuen Europaparlaments Platz nehmen dürfen, kommen aus Deutschland - das steht bereits fest. Aber welche Partei wie viele Parlamentarier nach Straßburg und Brüssel schicken wird, darüber entscheiden die deutschen Wähler bis 18 Uhr an diesem Sonntag.
CDU und CSU hoffen auf ein Ergebnis von wenigstens 30 Prozent, die SPD wäre inzwischen schon froh, wenn der Minusbalken nach den 27,3 Prozent von 2014 nicht zweistellig ausfällt. Den Grünen winkt ein Rekordergebnis und zum ersten Mal Platz zwei bei einer Wahl auf Bundesebene, Linke und FDP rechnen sich hohe einstellige Werte aus, die AfD deutlich über zehn Prozent der Stimmen.
Am Ende wird viel von der Wahlbeteiligung abhängen, die in Deutschland auch diesmal deutlich höher ausfallen dürfte als im EU-Schnitt - schon 2014 lag sie hierzulande bei gut 48 Prozent gegenüber knapp 43 Prozent. Und das, obwohl der Wahlkampf in Deutschland kaum in Fahrt kam, die inhaltlichen Debatten lau blieben.
Aber was folgt aus der Europawahl - vor allem für die deutsche Politik? Könnte am Ende sogar die Bundesregierung darüber stürzen? Und warum nehmen besonders Kleinstparteien so gern daran teil? Die Hintergründe:
Was bedeutet die Europawahl für die künftige Besetzung der EU-Kommission und sonstige Posten?
So viel wie noch nie: Die Spitzenpositionen aller EU-Institutionen werden nach dieser Wahl neu besetzt - neben der Kommission und ihrem Präsidenten also auch der Posten des Ratspräsidenten, des Parlamentspräsidenten, des EU-Außenbeauftragten sowie des Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB).
Zunächst geht es allerdings um den Vorsitz der neuen EU-Kommission, der nach dem vereinbarten Spitzenkandidaten-Prinzip theoretisch dem Wahlgewinner zukommen sollte. Jean-Claude Juncker, seinerzeit Spitzenkandidat der EVP, war so 2014 zu dem Posten gekommen, nachdem seine Konservativen die stärkste Partei im Europaparlament stellten. Sein EVP-Nachfolger Weber möchte ihn auf diesem Weg auch im Amt des Kommissionschefs beerben, genau wie bei den Sozialdemokraten deren Spitzenkandidat Timmermans.
Der jeweilige Wahlgewinner hat allerdings noch eine große Hürde zu nehmen: Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen sich am Ende auf einen Kommissionschef einigen - und wenn sie sich weder auf Weber noch auf Timmermans verständigen können, müssten sie sich nach anderen Kandidaten umschauen.
Sollte Weber am Ende nicht Kommissionschef werden, wäre wiederum der Weg für andere Deutsche auf weitere Posten frei: zum einen als Mitglied der Kommission, zum anderen als EZB-Chef. Für die Kommission werden beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und seine Verteidigungskollegin Ursula von der Leyen (beide CDU) gehandelt, für die Zentralbank gilt der bisherige Bundesbankchef Jens Weidmann als heißer Kandidat.
Hat die Wahl Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik?
Eine Konsequenz der Wahl steht bereits fest: Bundesjustizministerin Katarina Barley wechselt als deutsche SPD-Spitzenkandidatin ins Europaparlament und wird daher aus dem Kabinett ausscheiden - die Sozialdemokratin will schon am Sonntag Kanzlerin Angela Merkel ihr Entlassungsgesuch zukommen lassen. Aber folgt daraus eine größere Kabinettsumbildung und auch Wechsel auf Unionsseite?
Das ist eine der spannenden Fragen, deren Beantwortung auch vom nationalen wie europaweiten Ergebnis der Europawahl abhängt. Falls die EVP nicht stärkste Fraktion wird und ihr Spitzenkandidat Weber deshalb als möglicher EU-Kommissionschef ausscheidet, gäbe es zumindest für ein Unionskabinettsmitglied eine attraktive Verwendung als Kommissar oder Kommissarin. Sollten die GroKo-Parteien in Deutschland unter den Erwartungen bleiben, könnte alleine das ein Grund sein, im Zuge des Barley-Ausscheidens schwache Kabinettsmitglieder auszutauschen, um neue Dynamik in der Koalition zu erzeugen.
Welche Parteien müssen sich besonders Sorgen machen?
Am größten dürfte die Nervosität vor dem Wahlsonntag bei der SPD sein. Wie schlimm die Sozialdemokraten abstürzen, lässt sich bislang nicht absehen - aber zu der möglichen Europa-Klatsche könnte auch noch eine in Bremen kommen, wo am Sonntag ein neues Landesparlament gewählt wird und der SPD nach sieben Jahrzehnten der Verlust des Rathauses droht. Dazu kommen Kommunalwahlen in zahlreichen Bundesländern.
Sollte der Wahlsonntag für die SPD ganz und gar katastrophal ausgehen, könnte also noch eine ganz andere Dynamik in Gang gesetzt werden: Die Anti-GroKo-Kräfte in der SPD gewännen die Oberhand - dann wäre die Zukunft von Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles genauso offen wie die der Koalition.
Vor allem in der SPD-Fraktion gibt es reichlich Unruhe. Nach SPIEGEL-Informationen konfrontierte Nahles Ex-Parteichef Martin Schulz in einem Vieraugengespräch Ende vergangener Woche mit ihren Erkenntnissen: Sie höre, er wolle sie an der Fraktionsspitze ablösen, sagte sie nach Angaben aus Parteikreisen. Schulz bestritt demnach zwar akute Putschpläne, nicht aber seine grundsätzlichen Überlegungen.
Freiwillig dürfte Nahles jedoch nicht abtreten. Ob ein möglicher Nachfolger stark genug wäre, sie zu stürzen, ist offen.
Alles andere als tiefenentspannt ist der Blick auf den Wahlsonntag auch bei der Union. Sollte man bei der Europawahl deutlich unter 30 Prozent landen, dürften bei der CDU neue Personaldiskussionen beginnen: über Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer, Kanzlerin Merkel und mögliche Alternativen. Auch in der Union gibt es GroKo-Gegner, die sich dann lauter zu Wort melden könnten.
Warum ist die Europawahl für Kleinstparteien so attraktiv?
Anders als bei Wahlen zum Bundestag und in den Ländern gibt es in Deutschland keine Fünfprozenthürde bei der Wahl zum Europaparlament: So zogen dort 2014 sieben Abgeordnete deutscher Kleinstparteien ein, darunter der Satiriker Martin Sonneborn und ein Vertreter der Tierschutzpartei. 0,6 Prozent der Stimmen reichten vor fünf Jahren für einen Sitz im Europaparlament.
Und so dürfen sich die Mini-Parteien auch diesmal auf Mandate einrichten - zum Ärger der größeren Parteien.