«Grösste grenzüberschreitende Wahl des Planeten» hat begonnen
Berlin (Mdr) - Mehr als 400 Millionen Wahlberechtigte, 28 Länder, vier Wahltage und der Brexit - die Europawahl ist kompliziert. Wir erklären den Ablauf. Aber noch spannender wird das Ergebnis. Denn die Abstimmung ist eine Richtungswahl. Es geht um mehr oder weniger EU. Der Brexitund die Erfolge populistischer und nationalistischer Parteien in vielen Mitgliedsländern werfen die grundsätzliche Frage auf, ob die Staatengemeinschaft vertieft wird oder künftig auseinanderdriftet.
Briten und Holländer eröffnen die Europawahl
Mit der Abstimmung in Großbritannien und den Niederlanden haben am Donnerstag die Wahlen für das Europäische Parlament begonnen. Am 24. und 25. Mai wird in Irland, Tschechien, Malta, Lettland und der Slowakei gewählt. Am Sonntag finden dann die Abstimmungen in den meisten anderen Ländern statt, darunter Deutschland.
Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden für fünf Jahre gewählt.
Die Abstimmung ist anonym und frei, nur in Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern herrscht Wahlpflicht. Mindestalter ist 18, lediglich in Österreich und Malta liegt es bei 16. Insgesamt sind etwa 418 Millionen Bürger wahlberechtigt. Im Gegensatz zu nationalen Wahlen gibt es im Europaparlament keine Fünf-Prozent-Hürde.
Ergebnisse in der Nacht zum Montag
In den sieben Ländern mit Wahlen vor dem 26. Mai werden zunächst keine Ergebnisse genannt, um nicht den Ausgang der Wahlen in den restlichen Ländern zu beeinflussen. In Polen und Schweden wird am Sonntag bis 21 Uhr abgestimmt, in Italien bis 23 Uhr. Dennoch werden in Deutschland und anderen Ländern nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr eine nationale Prognose und erste Hochrechnungen veröffentlicht.
EU-Parlament unter Brexit-Vorbehalt
Das EU-Parlament wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission und ernennt die Kommissionsmitglieder. Es erlässt zusammen mit der EU-Kommission Gesetze und Vorschriften und verabschiedet jedes Jahr den EU-Haushalt. Das EU-Parlament als einzige direkt gewählte überstaatliche gesetzgebende Versammlung der Welt gestaltet das Leben von mehr als 500 Millionen Menschen in Europa.
Im Europäischen Parlament schließen sich Gleichgesinnte aus verschiedenen Staaten zu Fraktionen zusammen.
Die künftigen Machtverhältnisse im Parlament hängen auch von Großbritannien ab, das die Union verlassen will. Sollten die Briten bis zum 2. Juli noch EU-Mitglied sein, bleibt das neue Parlament bei der aktuellen Größe von 751 Abgeordneten. Mit dem Brexit scheiden die britischen Abgeordneten aus, das Parlament schrumpft auf 705 Sitze.
Rechte Kräfte schmieden große Fraktion
Die Europawahl 2019 gilt als Richtungswahl für den Kurs der EU. In Deutschland und anderen Staaten erzielten in den letzten Jahren populistische, rechtsextreme und nationalistische Parteien Stimmengewinne. Doch Rechtsaußen, EU-Skeptiker und Populisten sind kein einheitlicher Block, sie verfolgen unterschiedliche Ziele und bilden im EU-Parlament zwei Fraktionen - ENF (Europa der Nationen und Freiheit) und EFD (Europa der Freiheit und direkten Demokratie).
Stärkste Vertreter in der ENF sind die Lega in Italien und in Frankreich Marine Le Pens Rassemblement National (früher Front National). Die österreichische FPÖ lag in Umfragen vor dem Video-Skandal bei 24 Prozent.
Zur EU-kritischen und populistischen Fraktion EFD gehören vor allem die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die britische Brexit-Partei/Ukip sowie die AfD in Deutschland. Die AfD kann laut letzten Umfragen auf ein zweistelliges Ergebnis hoffen, nach sieben Prozent 2014. Dazu kommen in beiden Fraktionen noch Vertreter kleinerer Rechtsaußenparteien in mehreren Ländern.
Künftig wollen Rechtsaußen und Populisten eine größere Fraktion bilden. AfD-Chef Jörg Meuthen zufolge soll sie "Europäische Allianz der Menschen und Nationen" (EAPN) heißen. Man wolle die EU "reformieren, aber nicht zerstören". Gemeinsame Nenner sind die Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen und eine Beschneidung der Befugnisse Brüssels. Im Kern sollen die Nationalstaaten ihre Politik wieder weitgehend selbst bestimmen. Auch Ungarns Regierungspartei Fidesz wird sich wohl dem rechten Lager anschließen.
Neue Kräfteverhältnisse in Straßburg
Der stärksten Kraft im EU-Parlament, der konservativen EVP-Fraktion (mit CDU und CSU), drohen Umfragen zufolge deutliche Stimmenverluste. Ihr Einfluss und die Macht des von der stärksten Fraktion bestimmten EU-Kommissionspräsidenten könnte schwinden. Der sozialdemokratischen S&D-Fraktion droht sogar ein noch stärkerer Einbruch.
Zulegen könnten neben den Grünen auch die Liberalen. Das Bündnis Liberaler Parteien in Europa (ALDE) will sich nach der Europawahl auflösen und eine neue Fraktion zusammen mit der En-Marche-Bewegung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bilden. Das kündigte der belgische ALDE-Fraktionschef Guy Verhofstadt an. Damit könnten die Liberalen - derzeit vierte Kraft in Straßburg - deutlich an Einfluss gewinnen.
Die Themen der Europawahl
Die bestimmenden Themen für die Menschen vor der Europawahl waren Flüchtlinge und Migration, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie Klima- und Umweltschutz. Dabei reichen die Rezepte der Parteien von einer Vertiefung des EU-Föderalismus mit einem gemeinsamen Haushalt für die Eurozone sowie einer EU-Armee (beides Macron) über eine CO2-Steuer und einen EU-Mindestlohn (Linke, Grüne, SPD), die Idee eines EU-Sozialfonds (Linke) bis hin zur Beschränkung der EU-Befugnisse auf ein Minimum (Nationalisten, Populisten).
Am tiefsten ist der Graben in der Asylfrage: Die Linken wollen legale Flucht- und Einreisewege und ein europäisches Seenotrettungsprogramm. Die AfD will Europa abschotten und zivile Seenotrettung stoppen, um Flüchtlinge abzuschrecken. Im "Gipfeltreffen Europa" der ARD eine Woche vor der Europawahl sagte Meuthen: "Wir brauchen eine Festung Europa. [...] Sie können den Tod im Mittelmeer ganz einfach dadurch abstellen, dass Sie sagen: Auf diesem Weg kommt keiner mehr rein. Es dauert sechs bis acht Wochen und niemand wird es mehr versuchen, weil der Magnet abgestellt ist."
Faktoren Wahlbeteiligung, Briefwahl, Demografie
Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2014 lag in Deutschland bei 48,1 Prozent. (Bundestagswahl 2017: 76,2 Prozent). CDU und CSU erreichten damals 35,3 Prozent der Stimmen, die SPD 27,3 Prozent, die Grünen 10,7 Prozent, die Linke 7,4 Prozent, die AfD 7,1 Prozent und die FDP 3,4 Prozent.
Jeder vierte Wahlteilnehmer gab 2014 seine Stimme per Briefwahl ab. Dieser Trend hält seitdem bei Wahlen an. Auffällig war 2014, dass die Briefwahlquoten in den neuen Bundesländern deutlich niedriger ausfielen als in den westdeutschen: Sie reichten von 16,4 Prozent in Sachsen-Anhalt bis 39,4 Prozent in Rheinland-Pfalz.
Der Trend zur Briefwahl bringt ein Problem mit sich: Das Prinzip der gleichen Wahl unter gleichen Voraussetzungen wird ausgehöhlt. Ein aktuelles Beispiel zeigt das. Wer bereits vor dem FPÖ-Skandal in Österreich gewählt hatte, kann nun nicht mehr reagieren.
Die Wahlanalyse 2014 ergab auch, dass der Abstand zwischen jüngeren und älteren Wählern wächst.
Bei Jungwählern zwischen 18 und 24 Jahren lag die Wahlbeteiligung mit 36,8 Prozent deutlich unter dem 48-Prozent-Durchschnitt, bei den ab 70-Jährigen mit 56,8 Prozent höher. Hinzu kommt, dass der Anteil älterer Wähler aufgrund der demografischen Entwicklung wächst.