Video-Skandal um Strache macht politisches Chaos in Österreich: Kurz kündigt Neuwahl an
Wien (Handelsblatt) - Es ist Samstagabend um 19.53 Uhr als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz die lautstarken Forderungen von Tausenden Demonstranten vor dem Wiener Bundeskanzleramt erfüllt: Der 32-jährige Regierungschef bricht mit dem Koalitionspartner FPÖ. Dem vorausgegangen war die Veröffentlichung eines skandalösen Ibiza-Videos des Vizekanzlers und FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache.
Kurz hat sich nach nur 16 Monaten gemeinsamer Regierungsarbeit für vorgezogene Wahlen zum „nächstmöglichen Zeitpunkt“ entschieden. Einen entsprechenden Vorschlag hat er dem Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen bereits unterbreitet.
Dieser kündigte am Abend an, die Neuwahlen zu unterstützen. „Das ist eine unerhörte Respektlosigkeit“, sagte Bundespräsident Van der Bellen zum am Freitag veröffentlichten Video. „So ist Österreich nicht.“ Es brauche einen Neuaufbau des Vertrauens. Am Sonntag wird es ein weiteres Treffen zwischen Van der Bellen und Kurz geben, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Vor dem Kanzleramt jubelten am Samstagabend Tausende von Demonstranten, als Kurz bei seiner langen erwarteten Pressekonferenz verkündete: „Nach dem gestrigen Video muss ich sagen: Genug ist genug.“ Zur Begründung für seine Entscheidung zugunsten von Neuwahlen sagte Kurz: „Die FPÖ kann es nicht. Die Sozialdemokratie teilt meine inhaltlichen Zugänge nicht. Die kleinen Parteien sind zu klein.“
Das Schlimmste sei, sagte Kurz, dass er nicht den Eindruck gewonnen habe, dass sich die FPÖ auf allen Ebenen verändern möchte. Der scheidende Kanzler spielte auf eine Diskussion hinter verschlossenen Türen an. Demnach sollte Kurz zu einer Fortsetzung der Rechtskoalition bereit gewesen sein, wenn der umstrittene Innenminister und FPÖ-Ideologe Herbert Kicklsein Amt verlassen hätte und durch einen parteilosen Politiker ersetzt worden wäre. Doch das soll die frühere Haider-Partei abgelehnt haben.
Daraufhin rechnete Kurz wie in einer Wahlkampfrede mit seinem bisherigen rechtspopulistischen Partner ab. „Die FPÖ schadet dem Ansehen unseres Landes“, sagte er zusammenfassend. Die derben Anschuldigungen und Unterstellungen durch Strache gegen ihn seien eher nebensächlich. Er warf den Rechtspopulisten Machtmissbrauch vor.
Die gemeinsame Regierung seit Ende 2017 hat der Kanzler offenbar immer wieder nur schwer ertragen. „Ich musste viel aushalten. Es ist mir sehr schwergefallen, alles herunterzuschlucken“, sagte Kurz in Anspielung auf die zahlreichen Skandale durch die Aktivitäten von FPÖ-Politikern oder ihrer rechtsradikalen Sympathisanten.
Aber nicht nur Kurz schaltete in den Wahlkampfmodus. Die SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner kritisierte Kurz zuvor mit scharfen Worten. „Was wir in den vergangenen Tagen und Wochen erlebt haben, ist eine Politik ohne Anstand und Moral“, sagte die frühere sozialdemokratische Ministerin. Kurz habe mit seiner Rechtskoalition „Österreich in dieses politische Chaos geführt und dabei die Stabilität unseres Landes aufs Spiel gesetzt“, kritisierte die gelernte Ärztin.
Wann die Neuwahlen durchgeführt werden, war am Samstagabend noch offen. Der früheste Zeitpunkt für eine Parlamentswahl wäre am 18. August – mitten in der Ferienzeit. Politische Insider in Wien gehen daher von einem Wahltermin im Laufe des Septembers aus.
Theoretisch hätte es aber Alternativen zu Neuwahlen gegeben. So hatte sich der frühere ÖVP-Chef und Ex-Vizekanzler Erhard Busek für eine Koalition der Konservativen mit der SPÖ ausgesprochen. Damit konnte er sich aber nicht durchsetzen. „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die ÖVP nicht in Neuwahlen geht und eine Koalition mit der SPÖ macht. Der Grund, warum ich für diese Lösung bin, ist, dass ich nicht für dauerhaften Wahlkampf bin“, sagte der ÖVP-Politiker am Nachmittag dem Wiener Privatsender Oe24.tv.
In Wien war die Stimmungslage ohnehin eine andere: Mehr als 5000 Menschen demonstrierten am Samstagnachmittag im Regierungsviertel für ein Ende der Koalition zwischen ÖVP und FPÖ und forderten lautstark Neuwahlen.
Unter den Demonstranten befand sich auch der SPÖ-Spitzenkandidat für das Europa-Parlament, Andreas Schieder. Der Sozialdemokrat verlangte: „Wir brauchen einen fundamentalen politischen Neuanfang.“ Zu einer möglichen Bereitschaft der SPÖ mit der ÖVP zu koalieren, sagte Schieder nichts.
Strache sieht sich als Opfer einer Kampagne
Auslöser für die Regierungskrise ist ein heimlich aufgezeichnetes Video, das den bisherigen Vizekanzler Heinz-Christian Strache dabei zeigt, wie er einer vermeintlich russischen Investorin staatliche Aufträge anbietet, wenn sie dafür eine österreichische Zeitung kauft und seine Partei unterstützt.
Strache trat daraufhin am Samstagmittag von seinem Amt in der konservativ-rechtspopulistischen Regierung zurück. Am Sonntag legt er auch sein Amt als Parteichef nach 14 Jahren nieder. Sein Nachfolger als FPÖ-Chef wird der bisherige Verkehrsminister und ehemalige Bundespräsidentenkandidat Norbert Hofer werden.
Der scheidende FPÖ-Chef präsentierte sich bei seinem letzten Auftritt im Wiener Ministerium als Opfer einer „Schmutzkübel-Kampagne“. In seiner zwölfminütigen Rede sprach er von einem „gezielten politischen Attentat“ und einer „Auftragsarbeit“. Es habe sich um ein „geheimdienstlich initiierte Lockfalle“ gehandelt.
„Ich habe mich wie ein Teenager verhalten“, bekannte der bisherige FPÖ-Chef offenherzig. „Es war eine besoffene Geschichte“ sagte er zu dem Privatessen auf der Ferieninsel Ibiza mit einer angeblich lettischen Staatsbürgerin. „Meine Äußerungen waren nüchtern gesehen (...) außerordentlich peinlich“, sagte er. „Es war dumm, unverantwortlich und ein Fehler.“
Ein rechtswidriges Verhalten seinerseits sieht der 49-Jährige unterdessen nicht. Strache, der einst beim österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider in die politische Lehre gegangen war, drohte stattdessen mit einer medienrechtlichen Anzeige wegen des heimlich aufgenommen Videos. Konkret nannte er auch den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann.
Böhmermann hatte bereits frühzeitig Kenntnis vom politisch brisanten Ibiza-Video. Das bestätigte sein Manager Peter Burtz am Samstag der Deutschen Presse-Agentur. Bereits im April sagte der Kurz-Kritiker in einer Videobotschaft für den österreichischen Filmpreis Romy vieldeutig: „Hänge gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-bezahlt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla auf Ibiza herum – und verhandle darüber, ob und wie ich die Kronen Zeitung übernehmen kann und die Meinungsmache in Österreich an mich reißen kann.“ Böhmermann sei das Ibiza-Video aber nicht angeboten worden, sagte sein Manager Burtz.
Bei seinem Auftritt am Samstag entschuldigte sich Stracheöffentlich bei seiner zweiten Ehefrau Philippa für sein „typisch alkoholbestimmtes Macho-Gehabe“ bei dem Treffen. Erst am 1. Januar war Strache zum dritten Mal Vater geworden. Der gelernte Zahntechniker hat bereits aus seiner ersten Ehe mit der Gastronomen-Tochter Daniela Plachuttazwei Kinder.
Unmittelbar nach Straches Rücktritt gab auch der geschäftsführende FPÖ-Fraktionschef im österreichischen Parlament, Johann Gudenus, alle politischen Ämter auf. Er bedauere „durch mein Verhalten das in mich gesetzte Vertrauen der Wähler, Funktionäre und Mitarbeiter enttäuscht zu haben“. Bei dem siebenstündigen Treffen mit der angeblichen Oligarchennichte hatte der 42-jährige Rechtspopulist als Russisch-Dolmetscher fungiert.
Am Samstag veröffentlichten die beiden Gratiszeitungen „Österreich“ und „Heute“ eine weitere Videosequenz mit Strache. Darin spricht der 49-jährige Rechtspopulist von „Sex-Orgien von Kurz in den Drogen-Hinterzimmern“. Zudem „habe ich einen Informanten, der hat mir Fotos von Kern geschickt. Mit minderjährigen Schwarzen in Kapstadt“, sagte der bisherige FPÖ-Chef. Strache hatte bereits in der Rücktrittsrede erwähnt, dass er damals schmutzige Gerüchte über den Kanzler verbreitet hätte.
Video sorgt auch in der Wirtschaft für Aufregung
Auch in Wirtschaftskreisen zieht das Ibiza-Video Kreise. Schließlich kündigte Strache darin an, das österreichische Bauunternehmen Strabag von Staatsaufträgen auszuschließen. Der Konzern wurde vom früheren liberalen Politiker und Unternehmer Hans Peter Haselsteiner gegründet. Strache sagte wörtlich: „Nehmen wir Strabag, Autobahnen: Das Erste in einer Regierungsbeteiligung, was ich heute zusagen kann: Der Haselsteiner kriegt keine Aufträge mehr!“
Strabag-Gründer Haselsteiner ist ein Unterstützer und Förderer der liberalen Oppositionspartei Neos. Der aus Tirol stammende Unternehmer kündigte an, alle staatlichen Bauausschreibungen seitens des österreichischen Staates, in denen die Strabag nicht zum Zug gekommen sei, überprüfen zu lassen. „Vielleicht stellt sich heraus, dass gar nichts zu finden ist. Aber ich muss ausschließen können, dass es zu Eingriffen gekommen ist“, sagte er der österreichischen Zeitung „Standard“. In Österreich besitzt der in Wien ansässige Baukonzern ein Auftragsvolumen von drei Milliarden Euro.
Der Skandal um Strache hat womöglich auf Folgen für die SPÖ. Im Burgenland befinden sich die Sozialdemokraten in einer Koalition mit der FPÖ. Der burgenländische Landeshauptmann (Ministerpräsident) Hans Peter Doskozilprüft eine Beendigung des Bündnisses mit der früheren Haider-Partei und vorgezogene Landtagswahlen.
„Das ist eine Situation, die unsere Koalition belastet“, sagte Doskozil dem ORF am Samstag. „Es ist vieles denkbar“, sagte Doskozil vieldeutig zum Thema vorgezogene Wahlen im Burgenland. Am Montag tritt die sozialdemokratisch-rechtspopulistische Landesregierung zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten.