Nahles kämpft ums Überleben von SPD in Deutschland
Sonntag 28.April.2019 - 07:38
Berlin (Welt) - Andrea Nahles benötigt keinen langen Anlauf. Sie steht auf, geht ans Rednerpult. Sagt zwei Sätze. Und schon überschlägt sich ihre Stimme. Die rechte Faust trommelt auf das Pult. Sie rudert mit den Armen. Sackt für einen Moment in sich zusammen. Und teilt dann wieder aus. Andrea Nahles kämpft.
Es sind bald Bürgerschaftswahlen an der Weser, in der roten Hochburg Bremen. Es sieht nicht besonders gut aus für die SPD, die hier seit 73 Jahren ununterbrochen regiert. Die CDU, angetreten mit einem weithin unbekannten Unternehmer und Quereinsteiger, liegt gleichauf mit den Genossen. Das hat es hier noch nie gegeben. Umso wichtiger ist es, dass der SPD-Wahlkampfauftakt an diesem Freitagabend gelingt. Auch für Andrea Nahles.
Nach einer kurzen, für ihre Verhältnisse fast schon verhaltenen Attacke gegen die AfD – „rechte Brandstifter“ – nimmt sie sich gleich den hiesigen CDU-Herausforderer vor. Carsten Meyer-Heder, den Namen nennt sie nicht einmal, brüste sich ja damit, dass er keine Ahnung habe, schmettert die SPD-Chefin ihren rund 300 in der Bremer Überseestadt versammelten Genossen entgegen, dabei habe man „auf der Welt aber schon genug Leute, die keine Ahnung haben“. Großer, befreiter Jubel.
In der Tat ist Meyer-Heder, der Unternehmenschef und politische Quereinsteiger, in diesen Tagen so etwas wie der Gottseibeiuns der hiesigen Sozialdemokraten. Seit der Zwei-Meter-Mann vor gut einem Jahr aus dem Nichts zum Spitzenkandidaten aufstieg, hat die Bremer CDU erstmals seit Jahrzehnten wieder so etwas wie einen Hoffnungsträger. Einen Wahlkämpfer, der tatsächlich Ambitionen hat, ins Rathaus am Bremer Markt einzuziehen. Und der nicht, wie viele seiner Vorgänger, nur so tut, als wolle er gewinnen.
Also kämpft Nahles, wie sie nun einmal kämpft
Carsten Sieling, der bedrängte SPD-Bürgermeister, geht bisher dennoch ausgesprochen höflich um mit seinem ungleichen Rivalen. Er vermeidet jeden persönlichen Angriff. Andrea Nahles dagegen nimmt sich Meyer-Heder bei ihrem ersten Bremer Auftritt gleich ordentlich zur Brust. „Wow“, ruft sie, und ihre Stimme überschlägt sich wieder, sie habe ja „nichts gegen Unternehmer“. Sie fände es aber schon gut, wenn einer, der Bürgermeister werden wolle, sich vorher auch irgendwo mal engagiert habe. Dieser Kandidat dagegen sei auch noch „stolz auf seine Ahnungslosigkeit“.
Es ist natürlich kein Wunder, dass Nahles, 48, derart zur Attacke bläst. Die Wahl im kleinsten deutschen Bundesland, die am 26. Mai parallel zur Europawahl stattfindet, wird mitentscheidend dafür sein, ob Nahles sich auch ein zweites Jahr halten kann in ihrem Amt als SPD-Vorsitzende. Ihr erstes, das am Osterwochenende zu Ende ging, hat dafür wenig Argumente geliefert.
Die Partei verharrt bundesweit auf einem 16-Prozent-Umfrage-Tief, und als Nahles im vergangenen Sommer die später zurückgenommene Beförderung von Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen durchgewinkt hatte, stand sie schon einmal sehr knapp vor dem Ende ihrer politischen Karriere. Sie muss jetzt liefern. Also kämpft sie, wie sie nun einmal kämpft: laut, angriffslustig, manchmal schrill. In Bremen trifft sie damit den gewünschten Ton.
Das liegt auch daran, dass Andrea Nahles ihrer Partei nach Carsten Meyer-Heder noch ein paar andere Feindbilder vorführt. Robert Habeck zum Beispiel, den grünen Parteichef, auf den sie eigentlich immer ein bisschen neidisch sind bei der SPD. Genüsslich zitiert Nahles in ihrer Rede dessen jüngste Enteignungsfantasien und kontrastiert diese mit der Abschaffung der Mietpreisbremse, die er als grüner Koalitionspartner in Schleswig-Holstein abgenickt habe. „Links blicken, rechts abbiegen“, wettert Nahles. „Das geht aber nicht, Herr Habeck, das lassen wir nicht durchgehen.“
Auch diese Attacke kommt sehr gut an bei den Bremer Genossen, die ohnehin nicht mehr besonders gut zu sprechen sind auf ihren Koalitionspartner. Nach zwölf rot-grünen Jahren haben die Weser-Grünen in diesem Wahlkampf auf eine Koalitionsaussage zugunsten der Sozialdemokraten verzichtet. Die politische Ehe der beiden Parteien ist zumindest atmosphärisch vorläufig zerrüttet. Eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP wird von der grünen Spitzenkandidatin Maike Schaefer ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Auf 19 bis 20 Prozent bringt es Schaefers Partei in den Umfragen. Mit den 25 der Union und den sechs der FDP könnte es zu einer historischen Wachablösung im Bremer Rathaus reichen. Es wäre die erste Niederlage der Bremer Sozialdemokratie nach 19 sämtlich erfolgreich absolvierten Bürgerschaftswahlen.
Andrea Nahles ist mittlerweile beim Europa-Kapitel ihrer Wahlkampfrede angekommen. Ruhiger lässt sie es darin nicht angehen. Im Gegenteil. Erst Fäuste ballen, dann den Zeigefinger in der Luft kreisen lassen, die Arme weit ausbreiten, dann kracht die Hand wieder aufs Rednerpult, und die nächsten Feindbilder marschieren durch den Saal in der Bremer Überseestadt: Salvini, die Brexit-Befürworter, Konzerne, „die hier Profit machen, aber keine Steuer zahlen“, Gauland, Orbán. „Wir lassen uns Europa nicht kaputtmachen.“
Jubel. Blumensträuße. In Bremen, keine Frage, würde Andrea Nahles an diesem Abend mit einem 100-Prozent-Ergebnis wiedergewählt werden.