Europawahl könnte Merkels politische Karriere beenden
Berlin (Welt) - Wann hört Angela Merkel als Bundeskanzlerin auf? Man könnte ihre Erklärung zum Verzicht auf den CDU-Vorsitz und auf eine weitere Amtszeit im Kanzleramt als Fingerzeig nehmen und sagen: vielleicht bereits am 27. Mai, dem Morgen nach der Europawahl.
Im Oktober hatte Merkel ihren Verzicht mit der „Zäsur“ der hessischen Landtagswahl des Vortages begründet. Die CDU hatte elf Prozentpunkte verloren. Merkel sagte: „Als Bundeskanzlerin“ und CDU-Vorsitzende trage sie „schon qua Amt die Verantwortung für alles. Für Gelungenes genauso wie für Misslungenes“. Ihr Regierungsamt nannte sie zuerst. Wenn also die Union bei der Europawahl schlecht abschneidet – so wie am 28. Oktober in Hessen –, war es das dann?
Vielleicht. Aber man muss Merkels Erklärungen genau lesen, denn die Bundeskanzlerin wägt jedes Wort. Sechs Wochen vor der hessischen Wahl hatte sie nicht explizit gesagt, sie trete wieder für den CDU-Vorsitz an. Sie hatte auf eine entsprechende Frage nur erwidert, ihrer Überzeugung nach gehörten Parteivorsitz und Kanzlerschaft in eine Hand. Der gegenteilige Entschluss im Oktober war aus ihrer Sicht kein Wortbruch. Sie hatte vermieden zu sagen: Ich kandidiere.
Also ist es gut, genau hinzusehen und in der Oktober-Erklärung etwaige Bedingungen für eine komplette vierte Amtszeit zu suchen. Merkel sagte dort, sie habe sich „vorgenommen“, ihre Ämter „in Würde zu tragen und sie eines Tages auch in Würde zu verlassen“. Was mit Blick auf die Kanzlerschaft wohl heißt: das Kanzleramt nicht so zu verlassen wie 1982 Helmut Schmidt – gestürzt durch einen abtrünnigen Koalitionspartner und fallen gelassen von einem rebellischen Parteiflügel.
Ein schlechtes Resultat bei der Europawahl könnte dazu führen, dass Union und SPD in ernstliche Unruhe geraten. Innerparteilicher Streit würde weitere Sätze aus Merkels Erklärung aktuell machen: Das Bild der Regierungsarbeit sei „inakzeptabel“ und habe „meinen persönlichen Ansprüchen an die Qualität der Arbeit“ nicht standgehalten. Welche wären das?
Im Januar hat Merkel in Davos der ganzen Welt versichert, Deutschland habe „wieder eine stabile Regierung“. Das war keine Phrase. Der Satz spiegelt Merkels Anspruch.
Sollbruchstelle der Regierung?
Zu Jahresbeginn hat die Kanzlerin auch ungewöhnlich deutlich gesagt, wo sie eine mögliche Sollbruchstelle der Regierung vermutet – beim Zwei-Prozent-Ziel der Nato bei den Rüstungsausgaben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte sie Mitte Februar: „Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das schon Anfang der 2000er-Jahre ein Ziel war.“ Ohne solche Zusage sei damals kein neues Nato-Mitglied aufgenommen worden. „Das war noch vor meiner Zeit als Bundeskanzlerin.“
Nämlich unter Gerhard Schröder. Wenn die SPD das jetzt nicht beherzigt, gibt es gefährlichen transatlantischen Krach. Verstehen die Sozialdemokraten, dass Merkel hier Deutschlands Verlässlichkeit und damit die Würde ihrer Amtsführung tangiert sieht?
Versteht die SPD, was es in Merkels Augen bewirken könnte, wenn ihr Vizefraktionschef Rolf Mützenich Ende März im „Spiegel“ sagt, er glaube zu wissen, wo die Fraktionsmehrheit bei der Frage stehe, „ob die Regierung eher Geld für Rüstung oder für die Grundrente ausgeben soll“? Es ist für Merkel nachrangig, dass der Wortführer gegen Deutschland Donald Trump heißt. Es geht um eine Zusage, die gebrochen oder gehalten werden kann.
Vielleicht wollen Teile der SPD den Bruch; auch in der Union treffen manche schon Vorsorge. Annegret Kramp-Karrenbauer übt Walzer mit Friedrich Merz, um für einen plötzlichen Berliner Ball gerüstet zu sein. Andere Parteifreunde kritisieren den CDU-Wirtschaftsminister oder den CSU-Innenminister.
Fraktionschef Ralph Brinkhaus hat sich mit der Unterstützung der AfD-Kandidatin für das Vizepräsidentenamt des Bundestages nach rechts aus dem Fenster gelehnt und mit seiner Aussage über einen denkbaren muslimischen Kanzler nach links, in Richtung Cem Özdemir zum Beispiel. Er sagt, der CDU-Parteivorsitz umfasse nicht automatisch die Kanzlerkandidatur.
Mit Volker Kauders Sturz hat er schon einmal einen Coup hingelegt. Wittert er einen zweiten Ralph-aus-der-Kiste-Moment, falls die Europawahl schlecht ausgeht und dann welche sagen, nicht nur Andrea Nahles, sondern auch AKK sei bei ihrer ersten großen Bewährungsprobe gescheitert?
Die Umfragen für die Union bewegen sich keinen Millimeter, und die SPD kann froh sein, wenn sie mal vor den Grünen liegt. Bleibt das so, ist die Koalition am 26. Mai um 18.00 Uhr die große Verliererin. Die Terminlage für etwaige Folgeschritte ist freilich ungünstig. Der Bundestag hat bis zur Sommerpause nur noch zwei Sitzungswochen. Die nächste findet erst neun Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg statt.
Am letzten Sitzungstag, dem 28. Juni, beginnt der G-20-Gipfel in Osaka. Merkel will dort unbedingt hin. Der weltweite Umbau des Steuersystems, hin zu Digital- und eventuell auch CO2-Steuern, ist ein Zentralthema. G 20 soll zeigen, dass die internationale Zusammenarbeit noch funktioniert. In Osaka tritt erstmals die neue EU-Spitze auf einem weltpolitischen Forum auf – falls es einen Kommissions- und einen Ratspräsidenten dann überhaupt schon gibt.
Um die Posten kann es heftige Turbulenzen geben. Manfred Weber, CSU, ist als Kommissionschef noch keineswegs gesetzt (auch nicht vonseiten der SPD). Merkel fliegt zum Gipfel als dienstälteste Regierungschefin, nur Putin ist insgesamt länger an der Macht. Gibt es Krach in Brüssel, wäre Merkel Europas inoffizielle Sprecherin. Und da soll Deutschland in neuem Koalitionskrach versinken? Das würde als Instabilität wahrgenommen, als Regieren ohne Würde.
Merkel hatte im Oktober gesagt, jede Führungsentscheidung „muss nach bestem Wissen und Gewissen abgewogen und bedacht werden“. Eine solche Entscheidung kann trotzdem rasch kommen. Merkel hatte auch gesagt, sie sei „bereit“, für den Rest der Legislaturperiode Bundeskanzlerin zu sein.
Sie hat nicht gesagt: Ich will. Oder: Ich werde. Oder: Ich habe mir vorgenommen. Sie hat zum Ausdruck gebracht, dass ihre Bereitschaft davon abhängt, ob sie ihr Amt stabil führen und in einer vernetzten Welt Deutschlands Pflichten wahrnehmen kann. Ahnt sie, dass die Europawahl zur Zäsur werden könnte – ausgerechnet eine Europawahl?
Seit dem Jahreswechsel ist Angela Merkel länger in der Bundespolitik, als sie hinter der Mauer leben musste. Zwei Tage vor Weihnachten würde sie als Bundeskanzlerin Konrad Adenauers Amtszeit überrunden. Ob das so kommt, entscheiden die Wähler am 26. Mai.