Türkei war das perfekte Transitland für IS-Kämpfer ins "Kalifat" zu gehen
Berlin (Spiegel) - Woher die Zehntausenden kamen, die ab 2013 zum "Islamischen Staat" reisten, ist bekannt: aus etwa 100 Staaten vor allem des Nahen Ostens, Nordafrikas und Europas.
Aber dass sie so gut wie alle denselben Weg nahmen, ließ sich bislang vor allem durch Aussagen und die Rekonstruktion ihrer Reiserouten belegen. Das globale Nadelöhr war: die Türkei.
Nun durfte ein Team von SPIEGEL und SPIEGEL TV erstmals eine ganze Kiste voller amtlicher Belege zur Rolle der Türkei einsehen: Mehr als 100 Reisepässe von IS-Angehörigen aus 21 Ländern, die kurdische Milizionäre in den vergangenen Monaten erbeuteten. Darunter einige deutsche, viele aus Indonesien, Russland, Tunesien, aber auch aus so unerwarteten Staaten wie Trinidad und Tobago, Südafrika und Slowenien.
Eines haben alle gemeinsam: mindestens einen türkischen Einreisestempel. Manchmal sind auch zwei oder sogar drei Einreisen verzeichnet, was dazu passt, dass in der Anfangszeit bis 2014 viele Dschihad-Reisende erst einmal zum Schnupperaufenthalt ins Terrorreich kamen. Nach zwei, drei Monaten reisten sie wieder aus, um daheim weitere Willige zu rekrutieren und abermals zu kommen.
Das perfekte Transitland Türkei
Nur eines fehlt in den Pässen ebenso verlässlich: ein letzter Ausreisestempel. Offiziell haben die Passinhaber die Türkei nie verlassen, gingen über die anfangs wenig gesicherte Grenze nach Syrien oder ließen sich von Schleusern schmuggeln.
Die Türkei war das perfekte Transitland, um unauffällig aus einer normalen Existenz ins "Kalifat" des IS zu wechseln: ein Touristenland, das von vielen Ausländern kein Visum verlangt und als Reiseziel völlig unverdächtig erscheint.
Dass allerdings der rasant steigende Zustrom vor allem junger Männer aus Tunesien und anderen arabischen Staaten selbst in den Wintermonaten die türkischen Behörden nicht misstrauisch werden ließ, ist befremdlich. Ebenso, dass der kleine Flughafen in der Südprovinz Hatay ab Sommer 2012 gewirkt haben muss wie eine VIP-Lounge für internationale Fanatiker.
Beides spricht dafür, dass die kurdischen Machthaber in Nordostsyrien nicht ganz Unrecht haben mit ihren Vorwürfen gegen den Erzfeind in Ankara: "Wir haben von Anfang an der Weltöffentlichkeit gesagt, dass die Regierung Recep Tayyip Erdogans dem IS hilft", sagt der Militärsprecher Mustafa Bali beim Ausbreiten der Pässe in einem Kulturzentrum in Qamischli: "Damals wollte uns keiner glauben. Heute haben wir die Beweise."
In jedem Pass steckt ein grüner Klebezettel auf der Seite mit dem letzten türkischen Einreisestempel. Die Verwaltung im syrischen Ableger der türkischen Kurdenorganisation PKK ist bürokratisch penibel. Auch wurde die Kiste mit den Pässen extra aus der Geheimdienstzentrale ins Kulturzentrum zur Ansicht gebracht. "Wir haben tausend solcher Pässe", versichert Bali. Aber zur Ansicht freigegeben sind nur die mitgebrachten.
Einige der Pässe hätten gefangen genommene IS-Angehörige bei sich gehabt. Ein großer Teil sei aber in gestürmten Verwaltungsgebäuden gefunden worden. Das deckt sich mit den Aussagen Gefangener oder Geflohener. Demnach war ab 2015 die Ausreise aus dem Terrorstaat strengstens verboten, Pässe und Ausweise wurden konfisziert. Wer floh, riskierte sein Leben.
Was aus den Besitzern der Papiere wurde, mehrheitlich Männern, in geringerer Zahl Frauen und mitausgereiste Kinder, weiß Bali nicht. Vielleicht tot, vielleicht gefangen, Schulterzucken. Sicher sei nur: "Sie kamen über die Türkei!" Wie die Deutsche Asmaa A. aus Frankfurt, die Anfang 2014 einmal kam, wieder ausreiste, und im November dann zurückkehrte. Noch ein roter Einreisestempel vom Istanbuler Flughafen.
Aber kein blauer Ausreisestempel.