Bundesregierung will die Flüchtlingszahl herunterrechnen
Berlin (Welt) - Die Bundesregierung prüft, die Berechnung zu verändern, mit der die Anzahl der Flüchtlinge ermittelt wird, die nach Deutschland kommen. Das würde im Ergebnis zu einem niedrigeren Wert führen. Wäre die Berechnung bereits im Jahr 2018 angewendet worden, wäre die Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr um 40.000 Personen geringer ausgefallen.
Den Überlegungen innerhalb der Regierung liegen nach Informationen von WELT AM SONNTAG Zweifel zugrunde, ob die bislang verwendete, im Koalitionsvertrag festgeschriebene Berechnungsgrundlage die Realität zutreffend beschreibt.
Ob diese mühsam vereinbarte Formel zur sogenannten Obergrenze auch offiziell verändert wird, bleibt abzuwarten. Auf Anfrage erklärte das Innenministerium, dass eine „Änderung der Berechnungsweise“ nicht geplant sei.
Die Überlegungen sehen vor, künftig für die Statistik die hierzulande geborenen Kinder von Asylbewerbern nicht mehr mitzuzählen. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge waren das allein im Jahr 2018 insgesamt 32.303 Personen – und damit 19,9 Prozent aller Antragsteller.
Zusätzlich könnten den Plänen zufolge auch Personen herausgerechnet werden, die in Deutschland zwar einen Asylantrag stellen, anschließend aber in ein anderes EU-Land überstellt werden, das dann für die Bearbeitung zuständig ist. Im Jahr 2018 waren das nach Regierungsangaben circa 9209 Fälle.
Angedacht ist ferner, jene Menschen herauszurechnen, die zurück in ihre Heimat reisen und dafür finanzielle Unterstützung aus Programmen deutscher Bundesländer erhalten. Wie viele Personen in diese Gruppe fallen, ist unbekannt. Laut Bundesinnenministerium strebe man in Bezug auf die Rückreisenden, die finanziell unterstützt werden, an, „gemeinsam mit den Ländern so schnell wie möglich zu einer einheitlicheren Erfassung zu kommen“.
Formel zur Obergrenze ist heiß umkämpft
Wie die Gesamtzahl der Flüchtlinge berechnet wird, ist ein heikles Thema. Denn die Obergrenze der erlaubten Einreisen war erst nach langem Streit zwischen CDU, CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen festgelegt worden.
Dieser Kompromiss sieht vor, dass die jährliche Zahl der einreisenden Flüchtlinge nach Abzug der Ausreisen eine Spanne zwischen 180.000 und 220.000 Menschen nicht übersteigen soll.
Die aktuelle Obergrenzen-Formel sieht vor, dass die Zahl errechnet wird, indem zunächst die Zahlen aller Asylanträge, aller Familiennachzügler sowie der Flüchtlinge, die über humanitäre Notprogramme einreisen, addiert wird. Von dieser Summe werden bislang lediglich die Anzahl jener Menschen abgezogen, die abgeschoben werden oder freiwillig ausreisen.
Nach dieser Formel lag die Netto-Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2018 bei 165.000. Und damit unter der Obergrenze. Sollte die Regierung ihre Überlegungen zur Neuberechnung umsetzen, würde der Wert weiter sinken.
Entsprechende Berechnungen werden den Informationen nach sowohl im Kanzleramt als auch im Innenministerium durchgespielt. Bislang treten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) beim Thema Flüchtlinge vor allem als Widersacher auf.
Eine niedrigere Flüchtlingszahl könnte für beide von Vorteil sein. Sie könnten darauf hinweisen, dass die Flüchtlingszahl in ihrer Regierungszeit wieder stark zurückgegangen ist.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise werden Statistiken regelmäßig politisch instrumentalisiert. Als die Zahlen zum Beispiel im Jahr 2016 zurückgingen, verwies das Kanzleramt auf eine Grafik, die nahelegte, dass das von der Kanzlerin ausgehandelte EU-Türkei-Abkommen maßgeblich für den Rückgang verantwortlich sei. Eine neutrale Analyse der EU-Grenzschutzagentur Frontex kam dagegen zu dem Schluss, dass vor allem die Grenzschließungen eine Wirkung entfaltet hätten.
Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) warnte vor einer möglichen Neuberechnung: „In der Bevölkerung könnte dadurch leicht der Eindruck entstehen, man versuche die humanitäre Zuwanderung durch Tricks kleinzurechnen.“
Die migrationspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Linda Teuteberg, forderte von der Regierung „konkrete und praxistaugliche Maßnahmen zur wirksamen Steuerung von Migration“. Man benötige „keine Begriffskosmetik und kein Tauziehen um Statistiken“. Teuteberg sagte: „Das Vertrauen der Bürger ins Asylsystem und die Akzeptanz für sinnvolle legale Migration hängen eng damit zusammen, illegaler Migration rechtsstaatlich konsequent entgegenzutreten.“