Orbán sieht die Flüchtlingskrise ab 2015 nicht als beendet an
Berlin (Welt) - Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbánwehrt sich gegen die Forderung, seine Partei Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP) auszuschließen: „In Wirklichkeit kommt der Angriff von links, nicht um uns, sondern um die EVP zu schwächen. Wenn es uns nicht mehr gibt, werden sie die Italiener angreifen, und danach kommen die Österreicher an die Reihe. Das nennt man Salamitaktik“, sagt Orbán im Interview mit dieser Zeitung.
Der Bruch der christdemokratischen Parteienfamilie in Europa droht, seit Ungarns Regierung eine Plakatkampagne gegen den amtierenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gestartet hat, die Kritiker an antisemitische Stereotype erinnert. Mehrere christdemokratische Parteien in Europa fordern, Fidesz könne nicht Teil der EVP bleiben. Auch der Spitzenkandidat für die Europawahl, Manfred Weber (CSU), hatte einen Ausschluss zuletzt als Option bezeichnet.
Orbán wirft seinen Kritikern Blauäugigkeit vor: „Nicht jeder versteht dies, doch in der politischen Fachliteratur werden sie nach Lenin als die ‚nützlichen Idioten‘ bezeichnet. Während sie einen geistigen Kampf zu führen glauben, dienen sie den Machtinteressen anderer, ja denen unserer Gegner.“ Auf die Nachfrage, ob Orbán tatsächlich kritische Christdemokraten für nützliche Idioten der Linken halte, antwortete der Ministerpräsident: „Jene, die eine Spaltung der EVP vorziehen, ja.“
„Das wollen weder die Deutschen noch die Ungarn“
Mit der deutschen CDU hingegen gebe es einen guten Dialog. Erst in der vergangenen Woche hatten zwei enge Vertraute Orbáns darüber mit der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bei einem Treffen im Konrad-Adenauer-Haus gesprochen: „Bei diesem Besuch fiel die Entscheidung, den Dialog fortzuführen.“ Orbán werde Kramp-Karrenbauer im März auch persönlich treffen.
Auf die Forderung Webers, er müsse sich für seine Angriffe gegen Juncker entschuldigen, reagierte der ungarische Ministerpräsident nicht. Ein Sprecher der ungarischen Regierung erklärte lediglich, die Kampagne gegen den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker werde wie geplant am 15. März zu Ende gehen. Im Interview mit WELT AM SONNTAG kündigte Orbán selbst hingegen weitere Anti-Brüssel-Plakate an: „In der nächsten Phase des Wahlkampfs, die dann schon unsere Parteikampagne sein wird, werden Sie einen weiteren Akteur auf den Plakaten sehen: Herrn Timmermans. Herr Juncker geht in Rente, und an seine Stelle kommt Herr Timmermans.“
Der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans ist der Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für Rechtsstaatlichkeit. Er soll – wie Juncker – auf den ungarischen Plakaten neben George Soros gezeigt werden, dem ungarisch-amerikanischen Investor, der schon länger Zielscheibe einer Kampagne der ungarischen Regierung ist. Orbán begründet dies so: „Die Rolle von Soros für die europäische Politik kann nicht übergangen werden, und ein jeder hat das Recht darauf zu erfahren, dass Timmermanseingestandenerweise sein Verbündeter ist.“
Ungarns Ministerpräsident gibt zu, dass es Probleme zwischen den Regierungen in Budapest und Berlin gibt, und gesteht eine Mitverantwortung ein: „Ein Teil der Schuld an den deutsch-ungarischen Verstimmungen entfällt in der Tat wohl auf mich.“ Seit 1989 hätten beide Länder an einem Strang gezogen, „bis das Problem der Migration auftauchte“, meint Orbán. „Der Bruch in den politischen Beziehungen ist einzig durch die Migration entstanden. Wir bestehen auf dem Recht der Nationen auf Selbstverteidigung. Die Deutschen haben eine andere Philosophie.“ Die Flüchtlingskrise sieht Orbánnicht als beendet an: „Alles, was wir seit 2015 erlebt haben, wird noch stärker erneut geschehen.“
Die Differenzen in der Migrationspolitik seien „zwar nicht überbrückbar, aber man kann sie managen“. Dafür schlägt Orbán die Schaffung eines neuen europäischen Gremiums vor: „Die aus der Migration entspringenden Fragen muss man der Kommission aus der Hand nehmen.“
Nach dem Vorbild des Rats der Finanzminister der Euro-Zone soll es nach Orbáns Vorstellungen einen Rat der Innenminister der Länder geben, zwischen denen keine Grenzkontrollen mehr stattfinden: „Die Innenminister der Schengen-Zone müssten ein starkes Gremium erschaffen, damit die betreffenden Fragen dort entschieden werden können, wie dies Fachleute machen, und nicht so wie die Politiker.“