Eine Studie zeigt, dass der deutsche Arbeitsmarkt nicht ohne Zuwanderung auskommt
Berlin (Welt) - Die
Diagnose ist wirklich nicht neu, aber sie bleibt aktuell und wird uns trotz
aller damit verbundenen politischen Kämpfe in den kommenden Jahrzehnten begleiten:
Der demografische Wandel bedroht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
Deutschlands – und Ökonomen und Arbeitsmarktexperten erwarten, dass nur mehr
langfristige Migration den Wohlstand hierzulande sichern kann.
Gesunkene
Geburtenraten, eine bessere Gesundheitsversorgung und eine längere
Lebenserwartung sorgen dafür, dass die Bevölkerung hierzulande schrumpft und
der Anteil der Alten an der Bevölkerung zunimmt. Beide Entwicklungen führen
wiederum dazu, dass die Zahl der Erwerbsfähigen zwischen 20 und 64 Jahren
abnimmt. Das Statistische Bundesamt hat in seiner letzten großen Berechnung
dieser Art geschätzt, dass die Zahl der Erwerbsfähigen von 49 Millionen im Jahr
2013 auf nur noch 34 bis 38 Millionen im Jahr 2060 sinken wird.
Aktuelle Entwicklungen
können diesen Trend lediglich bremsen, nicht aber umkehren: Dass mehr Frauen
erwerbstätig sind und berufstätige Frauen länger arbeiten beispielsweise oder
dass Ältere über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten. Diese Möglichkeiten,
das sogenannte Erwerbspotenzial auszuschöpfen werden allerdings nicht
ausreichen – da sind sich die Experten von den Wirtschaftsweisen bis zur
Bundesbank und der Bundesagentur für Arbeit einig.
Deutschland braucht
jedes Jahr 260.000 Zuwanderer
Deutschland werde
langfristig hohe Zuwanderung brauchen – so lautet unisono die Empfehlung.
Anders ließe sich weder der Bedarf an Arbeitskräften decken, noch ließen sich
die Sozialkassen stabilisieren, wenn die Generation der Babyboomer in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten in Rente geht.
Die
Bertelsmann-Stiftung hat nun neue Zahlen vorgelegt: Demnach braucht die
deutsche Wirtschaft in den kommenden vier Jahrzehnten Millionen zusätzlicher
Arbeitskräfte aus dem Ausland. Bis 2060 müssten jedes Jahr im Schnitt
mindestens 260.000 Menschen mehr aus dem Ausland nach Deutschland ziehen als
wieder wegziehen.
„Nur so lässt sich
der demografiebedingte Rückgang des Arbeitskräfteangebots auf ein für die
Wirtschaft verträgliches Maß begrenzen“, heißt es in der aktuellen Studie
„Zuwanderung und Digitalisierung“. In dieser Zahl sind nicht nur die benötigten
Arbeitskräfte sondern auch Angehörige und Kinder enthalten.
Nur ein Teil dieser
Migranten werde aus der EU kommen, schreiben die Forscher des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Hochschule Coburg, die die
Berechnungen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung angestellt haben. Im Laufe der
Jahre und Jahrzehnte werde die Zuwanderung aus den EU-Staaten zudem stark zurückgehen.
Ein Blick zurück
verdeutlicht das Auf und Ab der EU-Migration: Von 1970 bis 2009 kamen in der
Regel jedes Jahr ungefähr genauso viele EU-Bürger nach Deutschland wie das Land
wieder verließen. In vielen Jahren hatte Deutschland sogar einen Wanderungsverlust
mit dem Rest der EU. Das änderte sich erst im Jahr 2009 im Zuge der
EU-Osterweiterung.
Auch die
Staatsschuldenkrisen in Südeuropa trugen dazu bei, dass im vergangenen
Jahrzehnt weit mehr Menschen aus anderen EU-Ländern nach Deutschland kamen als
den entgegengesetzten Weg einschlugen. Und der langanhaltende Aufschwung
hierzulande sorgte ebenfalls dafür, dass im Jahr 2017 der Wanderungssaldo mit
den anderen EU-Staaten ein Plus von 240.000 Personen erreichte.
Arbeitsmarktexperten
gehen allerdings davon aus, dass die Effekte beider Entwicklungen nachlassen:
Das gelte ganz besonders für die EU-Erweiterung. Wer aus diesen Ländern nach
Deutschland kommen wollte, sei bereits gekommen, heißt es von Experten. Weil
die mittel- und osteuropäischen Länder wirtschaftlich stärker werden, wird es
für die Menschen wirtschaftlich weniger attraktiv ist, ihre Heimat gen
Westeuropa zu verlassen. Zudem altern und schrumpfen auch die Bevölkerungen in
Ost- und Mitteleuropa. Eine Entwicklung, die ebenfalls dafür sorgt, dass
weniger Menschen aus diesen Ländern kommen.
Die
Bertelsmann-Forscher gehen deshalb davon aus, dass ein beständig wachsender
Anteil der Arbeitsmigranten aus Ländern außerhalb der EU kommen muss, aus
sogenannten Drittstaaten. Zwischen 2018 und 2035 müssten demnach jedes Jahr
annähernd 98.000 Migranten mehr aus Drittstaaten nach Deutschland kommen als
wieder wegziehen. Im Zeitraum zwischen 2036 und 2050 wären es bereits fast
170.000 Personen netto jährlich und in den zehn darauffolgenden Jahren im
Schnitt jedes Jahr beinahe 200.000. „Im Durchschnitt ergibt das von 2018 bis
2060 einen Zuwanderungsbedarf von jährlich 146.000 Migranten aus Drittstaaten“,
schreiben die Autoren.
Das sind Zahlen, die
sich stark von denen anderer Untersuchungen unterscheiden. Im Jahr 2017 hatte
die Bertelsmann-Stiftung selbst noch eine Studie veröffentlicht, die von den
gleichen Wissenschaftlern verfasst worden war. Damals schrieben sie, dass
langfristig jedes Jahr durchschnittlich 533.000 mehr Menschen zu- als abwandern
müssten, um die Lücke zu füllen, die durch die Verrentung der Babyboomer
entsteht.
IAB kam 2017 noch auf
höhere Zahlen
Für die
unterschiedlichen Zahlen gebe es zwei Gründe, sagt Matthias Mayer, der die
Erhebung für die Bertelsmann-Stiftung betreut. „Seit der letzten Studie dieser
Art hat sich die Datenbasis verändert. Der jüngste Zensus hat ergeben, dass
zuvor die Zahl der Ausländer hierzulande unterschätzt wurde und dass die
Geburtenrate gestiegen ist“, sagt Mayer. „Zudem haben die starke
Flüchtlingsmigration in den Jahren 2015 und 2016 und die Zuwanderung aus den
anderen EU-Staaten, die in den vergangenen Jahren ebenfalls hoch geblieben ist,
die Lage etwas entspannt.“
Hinzu komme ein
anderer Fokus der Untersuchung – der durchaus politisch motiviert sei: „In der
letzten Studie von 2017 haben wir untersucht, wie das Erwerbspotenzial
hierzulande konstant gehalten werden kann. Diesmal haben wir berechnet, wie wir
das minimal notwendige Erwerbspotenzial halten können“, erklärt Mayer. „Dieser
Mindestwert erscheint uns gegenwärtig die bessere Diskussionsgrundlage, auch
weil die Politik mit diesem Wert vermutlich besser umgehen kann. Es kann sein,
dass der tatsächliche Bedarf größer ist, aber bei diesem Zielwert scheint uns
eine politische Verständigung möglich.“
Der politisch
vermittelbare Wert ist allerdings nicht unbedingt der ideale Wert, um den
Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft zu befriedigen und den Wohlstand hierzulande
zu halten. Das IAB, das zur Bundesagentur für Arbeit (BA) gehört und das die
Untersuchung für die Bertelsmann-Stiftung mitangefertigt hat, kommt denn auch
in einer eigenen Berechnung aus dem Jahr 2017 zu einem anderen Ergebnis: „Um
das Arbeitskräfteangebot bis 2060 auf dem heutigen Niveau zu halten, wäre eine
jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Personen erforderlich“, schrieben die
Forscher des IAB damals. Noch im letzten Jahr zitierte Detlef Scheele, der
Vorstandsvorsitzende der BA, diese Zahlen des Instituts.