Ein EU-Austritt der Briten ohne Vertrag würde der Exportnation Deutschland massiv schaden
Berlin (Welt) - Das englische Wirtschaftsmagazin „Economist“ hat den Brexit auf seiner Titelseite zuletzt wie folgt versinnbildlicht: Ein glänzender, kraftstrotzender Zug rast mit Volldampf in die Zukunft, nur, dass diese Zukunft ein klaffender Abgrund ist, in den der Zug mit Mann und Maus stürzt.
Die Stärke der wirtschaftlichen Belastung durch einen EU-Austritt Großbritanniens hat sich inzwischen zu einem solchen Glaubenskrieg entwickelt, dass kaum noch eine vernünftige Diskussion darüber möglich ist. Während die Brexit-Befürworter dem Königreich außerhalb der Union eine blühende Zukunft vorhersagen, warnen andere vor Wohlstandsverlusten für alle.
Zweieinhalb Jahre nach dem Referendum zeichnet sich jedoch eines ab: Der Brexit hat wenig positive Effekte, birgt aber viele Risiken, für die einen mehr, für die anderen weniger. Die Exportnation Deutschland, so viel steht fest, kommt nicht ungeschoren davon. Wie groß die Gefahren für die Beschäftigung in einzelnen deutschen Regionen sind, haben Wissenschaftler nun erstmals zu beziffern versucht.
Die Ökonomen Hans-Ulrich Brautzsch und Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg haben in einer Untersuchung den „harten Brexit“ durchgespielt, also ein mehr oder weniger unkontrolliertes Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ohne Verbleib in der Zollunion.
In Böblingen stehen 726 Stellen auf dem Spiel
Die Ergebnisse der Simulation lassen keinen Zweifel daran, dass ein Exit ohne Kompromiss- und Auffanglösung den deutschen Arbeitsmarkt treffen würde. Mehr als 100.000 Beschäftigte bekämen den Einbruch des Handels direkt oder indirekt zu spüren, der aus dem harten Brexit folgt, merken die Ökonomen an. Wie andere Forscher gehen sie davon aus, dass die britischen Importe aus der Europäischen Union nach einem Austritt ohne Vertrag um 25 Prozent einbrechen werden.
Den Schaden hat nicht zuletzt die deutsche Autoindustrie, wo – den Kfz-Handel eingerechnet – rund 15.000 Stellen (oder knapp ein Prozent aller Beschäftigten) direkt oder indirekt am Export ins Königreich hängen. WELT AM SONNTAG hatte vorab Einblick in die Studie mit dem Titel „Potential International Employment Effects of a Hard Brexit“.
Brautzsch und Holtemöller haben sich nicht damit begnügt, die Zahl der bedrohten Jobs insgesamt zu prognostizieren. Vielmehr haben sie den Effekt auch auf die einzelnen Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland heruntergebrochen.
Und da zeigt sich ein eindeutiges Bild: Arbeitnehmer, deren Betriebe direkt oder indirekt für den Export produzieren, trifft es härter. Beschäftigte in binnenorientierten Branchen müssen sich dagegen weniger Sorgen machen.
So stehen im schwäbischen Landkreis Böblingen, wo unter anderem Technologiekonzerne wie IBM oder Siemens und Betriebe der Autoindustrie angesiedelt sind, 726 Jobs auf dem Spiel. Im Märkischen Kreis im südlichen Westfalen geht es um 703 Stellen.
Hier finden sich viele Mittelständler, deren Produkte weltweiten Absatz finden und die den globalen Marktführer auf ihrem Gebiet stellen. Für diese sogenannten Hidden Champions bildet der Export eine Lebensader. Wird der grenzüberschreitende Güteraustausch erschwert, schlägt sich das sofort auf die Geschäftsentwicklung nieder.
Begrenzte Gefahr für Ostdeutschland
Besonders harte Einschnitte brächte der unkontrollierte Austritt der Briten für Beschäftigte in Wolfsburg und im niederbayrischen Dingolfing-Landau. Gemessen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen wäre der Einschnitt nirgendwo in der Republik größer als in diesen Kreisen. Der Grund: Volkswagen beziehungsweise BMW stellen hier zusammen mit Kfz-Zulieferern die größten Arbeitgeber. „Die Beschäftigungseffekte eines harten Brexitwürden vor allem an den Automobilstandorten spürbar werden“, erklärt Holtemöller.
Wenn auf britische Autoimporte aus Deutschland nach dem Brexit Zölle nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) erhoben werden, könnten nach Berechnungen der IWH-Wissenschaftler in Wolfsburg wie in Dingolfing-Landau mehrere Hundert Arbeitnehmer betroffen sein, was 0,4 Prozent der gesamten Beschäftigung entspricht.
„Zu beachten ist dabei, dass wir hier von rein statischen Handelseffekten reden“, sagt Holtemöller: „Die Kernaussage ist die Verteilung der Effekte im Raum, während die konkreten Zahlen natürlich nur ganz grobe Schätzungen sind.“ So lautet die entscheidende Erkenntnis der Simulation denn auch, dass der Brexit die deutschen Regionen höchst unterschiedlich hart trifft.
Während Landkreise in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Schäden befürchten müssen, sind die Auswirkungen des britischen EU-Austritts auf Ostdeutschland begrenzt. In Vorpommern macht sich die Beeinträchtigung des Handels zum Beispiel kaum bemerkbar. Auch in Berlin, wo kaum Industrie angesiedelt ist, dürften sich die Auswirkungen in Grenzen halten.
Größte Effekte für deutsche Wirtschaft
Allerdings betonen die Wissenschaftler, dass die Simulation nur die Effekte der verminderten Exporte erfasst. Darüber hinausgehende ökonomische Verwüstungen sind weitaus schwerer zu beziffern. So dämpft die vermehrte Unsicherheit zum Beispiel die Investitionsbereitschaft der Unternehmen, was den Aufbau neuer Stellen verhindert.
Die Einschränkung der internationalen Arbeitsteilung sollte der Theorie zufolge den Wohlstand in allen am Welthandel beteiligten Nationen zurückgehen lassen. Ökonomen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben zuletzt ein weitaus dramatischeres Szenario durchgerechnet.
Falls der Austritt der Briten aus der EU den Handelskrieg zwischen den Wirtschaftsblöcken anheizt und sich am Ende nicht nur Amerika und China, sondern auch Europa und fünf weitere Handelspartner mit Schutzzöllen überziehen, könnte die deutsche Wirtschaftsleistung um 3,8 Prozent zurückgehen und die Arbeitslosenquote hierzulande um 1,9 Prozent hochschnellen. In ganz Europa könnten mehrere Millionen Menschen ihren Job verlieren.
Von solchen Extremszenarien ist die Brexit-Simulation der IWH-Forscher noch ein Stück entfernt. Holtemöller macht jedoch unmissverständlich klar, dass die Bundesrepublik als ökonomisches Kernland der EU und als große Exportnation unter dem Austritt besonders zu leiden hat: „In keinem anderen Staat ist der Effekt auf die Gesamtbeschäftigung so groß wie Deutschland, wo rund 100.000 Personen betroffen sind“, sagt der Wissenschaftler.
Weltweit bis zu 612.000 Arbeitsplätze betroffen
Zweitgrößter Leidtragender ist Frankreich, wo bis zu 50.000 Arbeitsplätze wegfallen könnten. In absoluten Zahlen ist auch China recht stark betroffen, wo rund 59.000 Jobs auf dem Spiel stünden. Der Brexit hat zwar keine direkten Auswirkungen auf den britisch-chinesischen Güteraustausch – die Volksrepublik ist ja kein EU-Mitglied –, doch erhalten chinesische Betriebe künftig weniger Aufträge von Firmen, die ins Vereinige Königreich exportieren.
Relativ zur Erwerbsbevölkerung trifft der Brexit zwei Euro-Länder sogar noch mehr als Deutschland, nämlich Malta und Irland. Beide verkaufen einen nennenswerten Teil ihrer Waren nach Großbritannien, nämlich 13,5 Prozent und 7,3 Prozent.
Daher wundert es nicht, dass die nach dem Brexit deutlich reduzierte Handelsaktivität 1,7 Prozent der Malteser und immerhin ein Prozent aller Iren um ihren Job bangen lässt. Dagegen sind 0,2 der deutschen Arbeitnehmer potenzielle Leidtragende des EU-Austritts.
Weltweit veranschlagen die Forscher Brautzsch und Holtemöller eine Zahl von 612.000 Menschen, deren Jobaussichten durch den britischen Austritt beeinträchtigt werden. Davon leben 179.000 Personen in der EU, außerhalb der Union kommen weitere 433.000 Menschen dazu, deren Betriebe Firmen der EU zuliefern, die wegen des erschwerten Handels künftig weniger nachfragen.