Merkel reagiert auf die Abstimmung in London nach dem Motto: Jetzt nichts überstürzen
Berlin (Tagesspiegel) - Abwarten und Tee trinken gilt eigentlich als Maxime britischer Lebensart. Aber am Tag nach dem Brexit-Votum üben sich darin die Verantwortlichen in Berlin. In aller Frühe im ZDF-Morgenmagazin rät der Wirtschaftsminister diplomatisch zu Geduld: Man müsse den Briten die Gelegenheit lassen, zu klären, was sie wollten, sagt Peter Altmaier (CDU). Auch Kanzlerin Angela Merkel spielt den Ball nach London. „Wir glauben, dass es jetzt an der britischen Seite ist (...) uns zu sagen, wie es weiter geht“, sagt die CDU-Politikerin vor einem schon länger geplanten Gespräch mit dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. An gutem deutschen Willen, eine „geordnete Lösung“ zu finden, fehle es nicht. Es bleibe ja auch noch etwas Zeit. Aber draußen vor der Ausschusstür wie später drinnen vor den Abgeordneten macht Merkel deutlich: Bevor wir Theresa May vielleicht helfen können, müssen wir wenigstens wissen wobei.
Das überdeutliche Nein im britischen Unterhaus zu dem Vertrag, den May mit der EU ausgehandelt hatte, macht die Antwort doppelt schwierig. „Relativ krass“, nennt Merkel im Ausschuss das Votum, mit dem in dieser Deutlichkeit niemand gerechnet hatte. Diese massive Blockade mit kleineren Zugeständnissen aufzulösen erscheint unmöglich. Komplette Neuverhandlungen kämen aber nicht in Frage, betonte die Kanzlerin vor den Abgeordneten. „Gesprächen zur Präzisierung“ werde sie sich nicht verweigern – aber immer in Abstimmung mit den anderen EU-Staaten.
Auf Details wollte sich die Kanzlerin nicht einlassen. Das Stimmengewirr sei groß genug, geben Teilnehmer sie wieder, dazu wolle sie nicht beitragen. Die Briten sollten ohne Druck von außen ihre Position klären können. Auch über eine Verschiebung des Austrittsdatums wollte sie nicht reden.
Hinter dieser Haltung steckt außer echter Ratlosigkeit offenbar auch die Erfahrung, dass die erhitzten Gemüter auf der Insel bereitwillig jeden Halbsatz missverstehen, der nach einer Aufweichung der EU-Front klingt. Selbst Merkels Hinweis, dass die Bundesregierung den ohnehin unvermeidlichen Schaden „so klein wie möglich“ halten wolle, ist da womöglich schon zu viel.
Die deutschen Vorbereitungen auf den Brexit laufen weiter zweigleisig. Am Donnerstag soll der Bundestag ein Gesetz beschließen, das Übergangsbestimmungen für den Fall eines geregelten Ausstiegs aus der Gemeinschaft trifft. Es soll zum Beispiel verhindern, dass Briten, die in Deutschland eingebürgert werden wollen, ihren britischen Pass verlieren, und umgekehrt. Das Bundeskabinett hat aber vorsorglich zwei weitere Gesetzentwürfe für den „harten Brexit“beschlossen. Den will niemand. Am besten, sagt der designierte CSU-Chef Markus Söder, wäre ohnehin der Rücktritt vom Brexit. Doch die Chancen schätzt er gering: „Was jetzt passiert, ist das totale Chaos.“